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Inseln im Wind

Inseln im Wind

Titel: Inseln im Wind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elena Santiago
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weißen Seidenkleid mit perlenbesticktem Oberteil. Dann tauchte hinter ihr in der offenen Tür eine dunkel umrissene Gestalt auf. Mary, die mit dem Rücken zu dem Mann stand, konnte nicht sehen, wie er näher kam. Sie klatschte begeistert in die Hände.
    » Wie hübsch Ihr seid!«
    Anne war herumgefahren und schrie auf, und Mary wollte sich ebenfalls umdrehen, doch es war zu spät. Der Mann war mit zwei großen Schritten auf sie zugesprungen, umschlang sie mit einem Arm und hob ein bluttriefendes, großes Messer. Mit einem harten Ruck rammte er es ihr in den Leib, riss es heraus, stieß nochmals zu. Dann ließ er sein Opfer fallen und stürzte sich auf Anne. In namenlosem Grauen erkannte sie Harold Dunmore. Kreischend wich sie ihm aus und rannte zur Tür. Er setzte ihr nach, stolperte jedoch über die gestürzte Irin und kam zu Fall. Anne hörte sein Fluchen, während sie bereits mit gerafften Röcken die Treppe hinabhetzte. Auf halber Höhe lag Ella, die Kehle aufgeschlitzt und die Augen im Tod weit aufgerissen.
    » Mutter!«, schrie Anne. » Wo bist du, Mutter?« Sie lief durch den Salon auf die Veranda hinaus. Schon bevor sie die hingestreckte Gestalt ihrer Stiefmutter sah, gewahrte sie die riesige Blutlache, in der sich das Kerzenlicht spiegelte. Dann erblickte sie das tote, bleiche Gesicht von Lady Harriet. Anne schrie und schluchzte und wollte sich zu ihr hinunterbeugen, doch im nächsten Moment hörte sie die polternden Schritte des Mörders auf der Treppe. Unmittelbar darauf kam er durch die Halle in den Salon gerannt, seine Gestalt zeichnete sich riesenhaft vor dem flackernden Licht der in den Wandkandelabern brennenden Kerzen ab.
    Anne raffte abermals ihre Rocksäume hoch und sprang von der Veranda. Sie flog förmlich zwischen den Frangipanibüschen hindurch, tauchte ein in die Dunkelheit der höheren Bäume, die das Herrenhaus zur See und in Richtung der Arbeitsschuppen und Wohnbaracken abschirmten. Sie rannte zu den Sklavenhütten – dort würde sie bestimmt Hilfe finden! –, doch mit jedem Schritt verdichtete sich ihre Gewissheit, dass sich außer ihr und Harold Dunmore kein lebender Mensch mehr auf der Plantage befand. Da war nur Stille. Kein Trommeln, keine Gesänge, kein abendliches Gelächter, kein Kindergeschrei vor der Hütte des Aufsehers. Dafür hörte sie hinter sich auf dem festgetretenen Lehmpfad die genagelten Stiefel ihres Verfolgers.
    » Warte!«, rief Harold Dunmore ihr nach. Es klang keuchend, kurzatmig. » Bleib stehen. Ich tu dir schon nichts! Wir unterhalten uns nur, versprochen!«
    Sie hetzte wie von Sinnen weiter. Mit dem Schreien hatte sie aufgehört, sie musste ihren Atem sparen. Es war fast völlig dunkel, vielleicht konnte sie sich verstecken, denn er hatte keine Laterne dabei, aber sie ahnte, dass sie mit dem strahlendweißen Kleid wie eine Fackel leuchtete. Und mit dem voluminösen, über den Boden schleifenden Stoff war sie viel zu langsam. Sie vergeudete Kraft damit, ihn hochzuhalten, und wenn sie stolperte und hinfiel, wäre sie verloren. Der in der Taille angesetzte Rock war nur lose angeheftet, Anne riss ihn mit ein paar kräftigen Rucken ab und sprang in vollem Lauf heraus. Es war ein halsbrecherischer Akt, und es geschah, was sie befürchtet hatte – sie stürzte.
    Die Schritte kamen näher, waren fast bei ihr, sie hörte sein schweres Keuchen. Verzweifelt strampelte sie sich frei, kam wieder auf die Beine, rannte weiter. Sie entwischte ihm nur um Haaresbreite, konnte seinen erhobenen Arm mit dem Messer schon aus den Augenwinkeln sehen. Er fluchte gotteslästerlich, denn in dem leichten, kniekurzen Unterkleid war sie wesentlich schneller als zuvor und machte rasch Boden gut. Die Todesangst verlieh ihr ungeahnte Ausdauer. Ihre in dünnen Seidenslippern steckenden Füße trommelten förmlich über den Boden, sie legte noch an Tempo zu. Im Laufen öffnete sie auch das beengende Mieder, damit sie freier atmen konnte. Immer weiter rannte sie durch die herabsinkende Nacht, bis sie glaubte, die Lungen müssten ihr bersten. Doch selbst dann machte sie nicht halt, wagte nicht, auch nur einen Schritt langsamer zu werden. Irgendwann kam sie vom Weg ab, sie merkte es an den Ästen, die ihr ins Gesicht peitschten, und an dem Gestrüpp, das sich in ihrem dünnen Seidenhemd verfing. Rennen konnte sie hier nicht mehr, doch sie zwängte sich stumm durch das sie umgebende Dickicht. Dornige Ranken zerkratzten ihr das Gesicht, rissen ihr Hemd auf, verhakten sich mit ihrem aufgelösten

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