Inseln im Wind
stören.
» Harold, hast du nicht Angst, dass du in die Hölle kommst?« Ihre Augen waren tote, schwarze Kohlen, doch ihr Lächeln war auf schaurige Weise lebendig, denn immer mehr Fliegen kamen aus ihrem Mund, während sie mit ihm redete. Sie wusste alles über ihn, kannte jede einzelne seiner Schandtaten, jeden Mord, jeden sündigen Gedanken. » Und das alles nur, weil du sie für dich haben willst?«, fragte die Frau mit den Kohlenaugen ihn. » Glaubst du denn, sie kann dich lieben, so, wie du bist? Denkst du etwa, dass überhaupt irgendein Mensch dich lieben kann?«
Er schrie, um ihre Worte zu übertönen, er hielt sich die Ohren zu, und als sie nicht aufhörte zu reden, zog er sein Messer und schlitzte sie auf, um sie zum Schweigen zu bringen. Da merkte er, dass er auf eine Schneiderpuppe einstach. Die tote Frau lag dahinter auf dem Boden, genauso wie vorher. Fliegen krabbelten über seine Hände, umschwirrten seinen Kopf und wollten in seinen Mund kriechen. Harold schrie abermals, doch davon ließen sie sich nicht vertreiben. Also schlug er nach ihnen, erwischte eine nach der anderen und schlug sie tot. Doch es waren zu viele, einige von ihnen entkamen ihm. Er kroch auf den Gang hinaus, um sie zu fangen, er konnte nicht dulden, dass sie sich davonmachten, das konnte schlimme Folgen haben.
Irgendwo unten waren Geräusche zu hören, wie von Schritten, aber diesmal würde er sich nicht hereinlegen lassen. Zuerst musste er sich um die Fliegen kümmern. Dann würde er weitersehen.
52
W oher hast du diese hier?«, fragte Elizabeth. Sie lag in Duncans Armen, den Kopf auf seine Brust gebettet, und zählte seine Narben. Gefährlich nah bei seiner Leiste hatte sie einen langen, gezackten Schnitt entdeckt, der noch nicht so stark verblasst war wie die übrigen.
» Von dem Kapitän der letzten Prise. Er kämpfte wie ein Löwe und verpasste mir dieses Andenken.«
» Aber du hast gewonnen«, stellte sie fest.
» Sonst läge ich wohl nicht so zufrieden hier«, gab er amüsiert zurück.
» Hast du ihn umgebracht?«
» Es ging nicht anders.«
» Was hast du dabei empfunden?«
» In dem Augenblick, als es geschah? Triumph. Ich war im Siegesrausch. Man denkt nicht viel. Das Blut kocht in den Adern, man wird zum Berserker und schlägt und sticht alles nieder, was sich einem in den Weg stellt. In solchen Momenten heißt es töten oder getötet werden. An dieser Wunde hier wäre ich fast verblutet, doch ich merkte es erst, als alle Gegner niedergemäht vor mir lagen.«
Elizabeth erschauerte. Unwillkürlich presste sie ihre Fingerspitzen auf besagte Narbe. Duncan nahm ihre Hand und umschloss sie sanft.
» Später, wenn alles vorbei und die Prise eingebracht ist, fängt man wieder an nachzudenken. Der Verstand kehrt zurück, und mit ihm das Bedauern, dass es so weit hatte kommen müssen. Die meisten streichen sofort die Segel, oft schon vor dem ersten Schuss. Sie wissen, dass ihnen nicht viel passiert. Abgesehen vom Verlust der Ladung bleiben sie ungeschoren und können den nächsten Hafen anlaufen oder zu ihrem Ziel weitersegeln. Doch es gibt immer wieder welche, die als Erste schießen. Und die bis zum Letzten kämpfen, auch dann noch, wenn sie merken, dass es aussichtslos ist.«
» Was würdest du tun?«, fragte sie, mit dem Finger einer weiteren Narbe nachspürend, die sich in einer gebogenen Linie über den Oberschenkel zog und um sein rechtes Knie wand. » Würdest du auch weiterkämpfen, obwohl die Lage aussichtslos ist?«
Sein Bein zuckte, weil er kitzlig war.
» Ich würde im rechten Moment aufhören.« Er fing ihre Hand ein, zog sie an seine Lippen und küsste ihre Fingerspitzen. » Und du hörst jetzt auf, meine Narben zu begutachten, denn damit wirst du nie fertig.«
» So einfach kommst du mir nicht davon. Woher ist diese Narbe an deinem Knie?«
Duncan seufzte ergeben.
» Die ist uralt, noch aus meiner Zeit als Schiffsjunge. Einmal bin ich im Ausguck eingeschlafen, und weil es nicht meine erste Dummheit auf Wache war, wurde ich zur Strafe kielgeholt. Ich hatte Glück, ich hab mir nur an den Muscheln am Schiffsrumpf das Bein aufgeschlitzt. Ich habe schon zugesehen, wie andere tot wieder rausgezogen wurden. Der Segelmeister hat es mit allerfeinsten Stichen genäht, und ich durfte drei Tage lang mit einer großen Buddel Rum die Koje hüten.«
Abermals erschauerte Elizabeth, denn der Gleichmut, mit dem er über diese Dinge sprach, ließ ihn bisweilen roh und gewissenlos wirken. Und doch war sie jederzeit
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