Inselsommer
ihr den Schirm und die Kuchenschale abnahm.
Offenbar war sie noch nie hier gewesen.
»Der ist von meiner Mama als Dankeschön, dass du mir gestern das tolle Buch von Swaantje geschenkt hast«, erklärte Paula und ging zum Tisch. Dort lag die Blumenskizze, die ich noch kolorieren wollte.
»Ist das von dir?«, fragte sie und schaute mich bewundernd und zugleich zweifelnd an.
»Ja, das ist von mir«, antwortete ich ein wenig verlegen. Wie mochte dieses beinahe expressionistische Skizzen-Wirrwarr auf eine Zwölfjährige wirken? Meiner Erfahrung nach liebten Kinder es in diesem Alter eher naturalistisch. Wenn sie sich überhaupt der Malerei öffneten.
»Wirklich super«, sagte Paula anerkennend und neigte den Kopf zur Seite. Eindringlich schaute sie auf das Blatt und verglich offenbar meine Zeichnung mit dem Modell. »Es sieht aus, als würde dein Bild eine Geschichte erzählen«, erklärte sie schließlich. »Man hat das Gefühl, dass man gleichzeitig die Blumen sieht, wie sie jetzt sind, aber auch die Knospen vorher und das, was danach passiert …«
Ich bekam Gänsehaut. Kritiker ergingen sich in endlos langen, selbstgefälligen Beschreibungen über das, was sie in den Werken der jeweiligen Künstler sahen, und gefielen sich darin, sich selbst reden zu hören. Doch dieser Teenager hatte intuitiv erfasst, worum es ging …
»Malst du denn auch gern?«, fragte ich und stellte mich neben das schmächtige Mädchen mit den großen, wachen Augen und den dunkelblonden Haaren. Nicht lange, und sie würde genauso groß sein wie ich.
»Nicht so besonders«, antwortete sie und zuckte mit den Schultern. »Bei mir sieht alles schief und krumm aus, und meine Hände machen nie das, was mein Kopf will. Das sagt übrigens auch meine Kunstlehrerin.« Wie wenig Einfühlungsvermögen diese Pädagogen manchmal bewiesen!, dachte ich wütend. Gerade in diesem Alter waren Kinder so leicht zu verunsichern. Ein falscher Satz, und schon entwickelten sie eine lebenslange, vollkommen unberechtigte Abneigung gegen etwas, das doch eigentlich Spaß machen sollte.
»Hast du denn Lust, es noch mal zu versuchen?«
Das Funkeln in Paulas Augen sprach Bände. Kommentarlos rückte ich einen zweiten Stuhl an den Tisch, riss meine Skizze aus dem Block und schob ihn zu ihr hinüber. Ich beobachtete voller Freude, wie Paula zu Werke ging. Im ersten Moment wirkten ihre Bewegungen tatsächlich ein wenig ungelenk, und sie zog vor Anspannung die Schultern nach oben, aber bald schon schien der Ehrgeiz sie gepackt zu haben. Als ich fragte, ob sie einen Früchtetee wollte, war sie bereits so im Zeichnen versunken, dass sie keine Antwort gab. Vorsichtig stand ich auf und stellte den Wasserkocher an.
Es dauerte nicht lange, bis sie nach einem Pinsel und Tuben griff und die Farben auf sehr eigenwillige Art mischte. Das Ergebnis testete sie nach und nach auf einem weiteren Blatt und trug die Mischung erst auf, als sie zufrieden war.
Diese Kunstlehrerin scheint eine ignorante Pute zu sein, dachte ich wütend. Es war mehr als offensichtlich, dass Paula ein Gespür für Koloration und Motivwahl hatte. Natürlich war alles noch weit davon entfernt, perfekt zu sein, aber erstens ging es nicht um das Ergebnis, und zweitens konnte man das nötige Handwerk lernen – vorausgesetzt, man hatte jemanden, der es einem beibrachte. Und zwar mit Liebe, Geduld und dem nötigen Fingerspitzengefühl.
»Willst du in Zukunft vielleicht öfter kommen?«, fragte ich, nachdem Paula mit vor Aufregung glühenden Wangen den Pinsel ins Wasser getunkt hatte, um ihn zu säubern.
Das Mädchen nickte begeistert.
»Wenn du magst, können wir uns ein- oder zweimal die Woche hier treffen, und ich zeige dir alles, was du wissen möchtest. Ich wollte nämlich früher selbst mal Kunst unterrichten, weißt du?« Paula schaute mich erstaunt an. »Nein, das wusste ich nicht, aber ich würde wahnsinnig gern kommen. Schade, dass unsere Lehrerin nicht so nett ist wie du!«
»Also abgemacht: Du fragst deine Mutter, ob sie einverstanden ist, und wenn ja, können wir sofort loslegen. Allerdings geht die Schule vor. Musst du für eine Klassenarbeit lernen oder hast viele Hausaufgaben auf, verschieben wir den Termin, okay?« Paula nickte erneut. Danach besiegelten wir unseren
Bund
mit einem Becher Tee und einem großen Stück von Tanjas Schokoladenkuchen.
Nachdem Paula gegangen war, klarte der Himmel auf, und ich entschied mich, wie geplant zum Yoga zu gehen. Doch davor wollte ich Bea unbedingt von
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