Inselsommer
würde. Bevor ich die Tür hinter mir schloss, warf ich einen letzten Blick in jedes Zimmer. In dieser Wohnung war ich viele Jahre lang glücklich gewesen.
Auch wenn mich die Wehmut zu überwältigen drohte, war ein Teil von mir schon im Geiste dabei, meine Lieblingsstücke im Pavillon einzuräumen. Endlich hatte ich wieder ein kleines Zuhause für mich allein.
Schwer bepackt ging ich die Stufen hinunter und beglückwünschte mich, dass ich einen Parkplatz direkt vor dem Haus ergattert hatte.
»Dann ist es jetzt also so weit, du kehrst allen den Rücken, ja?«
Fassungslos schaute ich in das Gesicht, das mich gelegentlich nachts in meinen Träumen begleitete, und brach in Tränen aus. Ich ließ die beiden Kartons fallen und warf mich einem Impuls folgend in Vincents Arme. In diesem Moment war es mir egal, ob Nachbarn uns sahen oder Patrick nach Hause kam. Ich wünschte mir nichts sehnlicher als Zärtlichkeit und Wärme.
»Na, na, na«, sagte Vincent leise und wiegte mich in seinen Armen wie ein kleines Kind.
Dann strich er mir übers Haar.
»Lilly lässt dir liebe Grüße ausrichten. Sie würde sich freuen, wenn du ihr mal eine Postkarte von der Insel schickst. Am liebsten mit einem Seehund vorne drauf.«
»Ja, ja, so sind sie, kleine Mädchen«, schniefte ich und löste mich aus der Umarmung, um mir die Nase zu putzen. »Das mache ich natürlich gern. Sag ihr, ich werde sie vermissen. Aber wie geht es dir?«
»Wollen wir uns einen Moment auf die Treppenstufen setzen, oder hast du noch Zeit auf einen Kaffee?« Ich schaute auf die Uhr. In zwanzig Minuten sollte ich drei Bewerbungsgespräche führen. Bis dahin mussten aber auch noch fünf Kartons von oben geholt und ins Auto gebracht werden.
»An sich muss ich los, aber wenn du mir hilfst, die restlichen Kisten nach unten zu bringen, können wir uns gern dabei unterhalten. Vorausgesetzt, das ist okay für dich.«
Vincent nickte.
Nachdem mein Hab und Gut im Kofferraum und auf der Rückbank verstaut war, schossen mir erneut die Tränen in die Augen. Diese Situation war so absurd: Ich zog nach Sylt, weil Patrick und ich uns getrennt hatten.
Und vor mir stand Vincent, offenbar immer noch in mich verliebt, und ich fühlte mich bedürftig wie ein kleines Kind.
»Also dann, mach’s gut«, sagte Vincent schließlich mit traurigem Blick und nahm mich in den Arm. »Ich wünschte, es wäre alles anders gekommen und du hättest uns beiden eine Chance gegeben … Also pass auf dich auf. Unternimm keine nächtlichen Wattwanderungen.« Ich schluckte schwer. Auch Vincent sah aus, als müsse er um Fassung ringen. Ich musste schleunigst hier weg.
»Du auch. Und ich verspreche, jemanden für die Galerie zu finden, der zu dir und Jule passt und der euch entlastet. Ihr habt beide in den letzten Wochen mehr als genug gearbeitet«, sagte ich so sachlich wie möglich.
Als ich losfuhr, konnte ich im Rückspiegel sehen, dass Vincent noch auf dem Bürgersteig stand und mir nachschaute. Erst kurz vor der Galerie fiel mir ein, dass ich etwas Wichtiges vergessen hatte: Patrick den Haustürschlüssel in den Briefkasten zu werfen.
Er hing immer noch an meinem Schlüsselbund.
Zweieinhalb Stunden später waren Jule und ich uns einig, dass Mira Becker die perfekte Ergänzung für ArtFuture war. Glücklich, eine gute Lösung für die Galerie gefunden zu haben und mich jetzt wesentlich freier fühlen zu können, bog ich auf die Elbchaussee. Bald würde ich mich endgültig von Hamburg verabschieden. Von Doro hatte ich bedauerlicherweise immer noch nichts gehört, aber ich hoffte, sie noch zu sprechen, bevor ich mich auf den Weg nach Sylt machte.
Ich hatte Glück und fand einen Parkplatz in der Nähe der Landungsbrücken, wo es etwas ruhiger zuging, weil die meisten Hamburger um diese Uhrzeit noch arbeiteten. Wie immer ging ich zunächst über die Brücke 9 und folgte exakt den Spuren von meinen gemeinsamen Ausflügen mit Patrick: das Restaurant Waterfront, das Café Brücke 10 , dazwischen unzählige Imbissbuden und Souvenir-Shops, vor deren Türen Ständer mit Ansichtskarten und hübschen Hamburg-Taschen aus glänzendem Plastik in allen nur erdenklichen Farben standen.
Ich beschloss spontan, mir eine zu kaufen. Robust, wie sie war, konnte ich sie auf der Insel bestimmt gut gebrauchen. Weil ich mich nicht zwischen Lila und Schwarz entscheiden konnte, nahm ich einfach zwei, eine für Larissa, die sich ihre Lieblingsfarbe aussuchen sollte. Trotz des Abschiedsschmerzes freute ich mich,
Weitere Kostenlose Bücher