Inselsommer
Ernst, ist das jetzt nur so eine flüchtige Idee, weil du gerade von Mallorca zurück bist, oder denkst du wirklich darüber nach?«
Da ich wusste, dass Larissa vor Jahren wegen Leon ein tolles Jobangebot in Mailand ausgeschlagen hatte, konnte ich mir gut vorstellen, dass sie nach all der Zeit selbst wieder die Abenteuerlust gepackt hatte. Kein Wunder, ihr Alltag auf der Insel verlief relativ gleichförmig. Andererseits: War das nicht überall so?
»Ich schätze, es bleibt mir nichts anderes übrig, wenn ich meinen Kinderwunsch nicht endgültig aufgeben möchte. Leon ist auf Mallorca so unglaublich aufgeblüht, und das will ich ihm keinesfalls nehmen und ihn auf Biegen und Brechen auf Sylt festnageln. Natürlich ging es ihm hier nicht schlecht. Aber du kennst das ja: tagaus, tagein derselbe Trott, ohne besondere Höhen und Tiefen. Und irgendwann dreht man sich im Kreis und stellt fest, dass schon wieder ein paar Jahre einfach so vergangen sind, ohne dass man sich weiterentwickelt hat. Auch Nele genießt in Mexiko die Inspiration und hat sogar einen netten Mann kennengelernt, einen Schweizer Bildhauer.«
Ich versuchte, all die Informationen zu sortieren, die innerhalb kürzester Zeit auf mich eingeprasselt waren, und kam zu dem Schluss, dass Larissa es wohl tatsächlich ernst meinte.
»Das klingt ganz schön abgeklärt. Aber was sagt dein Herz? Was fühlst du? Du würdest doch Bea, Vero, das Büchernest, dein Leben hier vermissen, oder etwa nicht? Im Grunde genommen lebst du doch gern auf Sylt und würdest bestimmt nicht das Gefühl haben, dass dir etwas fehlt, wenn du ein Kind hättest, nicht wahr?« Larissa schaute gedankenverloren in den dunkelblauen Nachthimmel, an dem mittlerweile zahllose Sterne wie Brillanten funkelten.
»Natürlich wäre alles einfacher, wenn Leon dieses Angebot niemals bekommen hätte«, stimmte sie mir zögerlich zu. »Und vermutlich hast du recht, dass ich gerade alles eher mit dem Kopf als mit dem Bauch entscheide. Aber manchmal ist das wahrscheinlich nicht so verkehrt. Und, hey, wer sagt denn, dass wir für immer dableiben? Vielleicht haben wir ja nach ein paar Jahren genug von der ewigen Sonne, dem türkisfarbenen Meer, Mandeln, Oliven und Zitronen und sehnen uns nach stürmischem Wetter und heißem Grog.
Aber ich will meinen Lebenstraum nicht aufgeben. Seit ich klein war, habe ich mir Kinder gewünscht. Ich habe mich immer als Oma im Kreis von vielen Enkeln gesehen. Es wäre doch furchtbar, wenn es nach meinem Tod niemanden mehr aus meiner Familie gäbe.«
Ich kämpfte innerlich gegen Larissas Worte an. Sie erinnerten mich an die vielen Nächte, in denen ich wach gelegen und mir genau
diese
Fragen gestellt hatte. Wer würde später für mich da sein, wenn ich alt und bedürftig war?
Wer würde an meinem Grab stehen und um mich weinen?
»Was sagt denn Bea zu alldem?«, fragte ich, um mich von diesem düsteren Zukunftsszenario abzulenken.
»Bislang gar nichts, weil ich es ihr noch nicht erzählt habe. Ich wollte mir erst selbst darüber im Klaren sein und auch meine Chancen auf Mallorca ausloten, bevor ich sie erschrecke und aus den Plänen dann doch nichts wird. Vor Frühsommer nächsten Jahres ist das sowieso noch nicht spruchreif …«
Obwohl es mich eigentlich nichts anging, ertappte ich mich bei dem Gedanken an die Buchhandlung. Wer würde sie übernehmen, wenn Larissa wirklich Ernst machte?
Bea ganz bestimmt nicht, denn dazu genoss sie die Freiheit, die ihr das Leben als Seniorin bot, viel zu sehr.
Momentan war sie mit Feuereifer dabei, sich zusammen mit Adalbert und der Initiative
Zukunft Sylt
dafür einzusetzen, dass auf dem ehemaligen Militärgelände Fliegerhorst bezahlbare Wohnungen für Insulaner gebaut wurden.
Aber natürlich konnte Bea auch verkaufen, immerhin war das Büchernest eine kleine Goldgrube, sogar in den Wintermonaten.
Doch würde das Büchernest ohne Bea und Larissa noch dasselbe sein?
»Ich gäbe sonst was dafür, jetzt deine Gedanken lesen zu können«, schmunzelte Larissa.
Das Windlicht flackerte, und ich zog mir meine Jacke enger um die Schultern, weil es deutlich abgekühlt hatte. Sylt war eben nicht Mallorca, wo man bis morgens um zwei mit einem Sommerkleidchen draußen sitzen konnte.
»In meinem Kopf geht es gerade rund, denn wie wird Bea reagieren, wenn du fortgehst. Ihr beide hängt doch so aneinander.«
Und Bea ist auch nicht mehr die Jüngste,
ergänzte ich in Gedanken. Ich selbst hatte meine Eltern verloren, kurz bevor ich Patrick
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