Inselsommer
machen.«
»Okay, überredet, aber wir laufen noch bis zur nächsten Bank dahinten. Das wirst du hoffentlich noch schaffen, oder?«
Tapfer schleppte ich mich einen halben Kilometer weiter. Während Helen sofort mit Dehnübungen begann, saß ich auf der Bank und überlegte, warum Doro, nachdem wir uns gestern Abend getrennt hatten, nicht mehr erreichbar war.
Zu Hause sprang nur der Anrufbeantworter und auf dem Handy sofort die Mailbox an, was leider meine Fantasie auch auf Touren brachte.
»Ich glaube nicht, dass wir uns Sorgen um Doro machen müssen«, sagte Helen, setzte sich neben mich und reckte ihr hübsches Gesicht der Maisonne entgegen, die bereits mit voller Kraft schien. »Immerhin hat Thomas sie nicht beim Knutschen mit Mats erwischt, sondern wahrheitsgemäß beim Abendessen mit uns.«
»Aber er scheint ihr doch offensichtlich nachzuspionieren«, gab ich zu bedenken. »Woher wusste er, dass wir in der Sansibar waren? Doro hat doch gesagt, dass sie ihm nichts davon erzählt hat. Nur dass wir uns treffen wollen.«
Helen zuckte mit den Schultern.
»Diese Frage kann ich dir auch nicht beantworten. Jedenfalls sollte sie in nächster Zeit echt aufpassen, wenn sie nicht will, dass ihr die Kiste mit Mats ganz gewaltig um die Ohren fliegt.«
Ich dachte daran, dass mir solche Szenen wie die mit Thomas große Angst machten und ich mich deshalb nie
privat
mit Vincent hatte treffen wollen. Ich hasste Lügen, auch wenn man manchmal im Leben nicht darum herumkommt.
Doro schien jedoch anders gestrickt zu sein, denn offenbar hatte sie beschlossen, dass sie ein Anrecht auf Glück hatte.
Aber war das berechtigt?
Und vor allem, wenn dieses Glück auf dem Unglück eines anderen Menschen aufgebaut war?
»Wann willst du eigentlich heute los?«, fragte Helen und schaute auf die Uhr. »Schaffst du das wirklich allein, oder soll ich nicht besser nach meinem Termin vorbeikommen und dir helfen?«
»Das ist lieb von dir, aber ich bekomme das schon hin. Ich werde vermutlich am frühen Nachmittag fahren, damit ich Patrick nicht in die Arme laufe.
Außerdem habe ich um drei den Termin mit den Bewerberinnen für den Job in der Galerie. Wann ich genau fahre, ist im Grunde egal, denn Bea ist sowieso eine kleine Nachteule. Ich muss nur darauf achten, den letzten Autozug nach Westerland zu erwischen.«
Als ich die Wohnungstür öffnete, hallten in meinem Kopf immer noch Patricks Worte wider:
Und wirf bitte den Wohnungsschlüssel in den Briefkasten.
Das wollte ich nachher entscheiden.
Jetzt galt es, die Kartons, die Helen mir netterweise aus dem Baumarkt besorgt hatte, vollzupacken und mich zu beeilen, damit ich pünktlich zu meinem Termin kam. Bevor ich anfing, schrieb ich eine Liste mit Sachen, die mir wichtig waren. Dann legte ich klassische Musik auf und kochte mir eine große Kanne Tee. Während ich darauf wartete, dass der grüne Sencha zog, betrachtete ich die Fotos an der Küchenwand. Sie zeigten Patrick und mich. Entweder auf Reisen oder auf Feiern bei Freunden … oder an der Elbe, einem unserer Lieblingsorte in der Stadt. Beim Anblick des Wassers und der Containerschiffe beschloss ich spontan, mich später auf eigene Weise von Hamburg zu verabschieden. So sehr es auch schmerzen würde – ich wollte noch einmal an den Hafen fahren.
Um meinem Zuhause endgültig Lebewohl zu sagen, ging ich durch die Wohnung und blieb in Patricks Arbeitszimmer stehen.
Mit dem Gefühl, etwas Verbotenes zu tun, glitt mein Blick über seinen Schreibtisch: ein Buch, das ich noch nicht kannte, Quittungen, ein halbvolles Glas Rotwein, vermutlich vom Vorabend, und mehrere handgeschriebene Briefe ohne Absender.
Obwohl es mir sehr schwerfiel und ich vor Neugier beinahe platzte, nahm ich keinen aus dem Umschlag. Patrick bekam so gut wie nie etwas anderes als Geschäftspost, Weihnachtsgrüße oder Ansichtskarten aus dem Urlaub.
Also wer hatte ihm geschrieben?
Ob ich vielleicht doch einen kurzen Blick riskieren sollte?
Zwei Seelen kämpften in meiner Brust, und es kostete mich viel Überwindung, standhaft zu bleiben. Daher konzentrierte ich mich voll aufs Packen, denn es gab noch reichlich zu tun, bis ich in die Galerie musste.
Um halb drei war endlich alles geschafft, ich würde also pünktlich auf der Fleetinsel ankommen. Die Dinge, die ich nicht mit nach Sylt nahm, wollte Helen am darauffolgenden Wochenende abholen und netterweise auf ihrem Dachboden deponieren, bis ich mich entschieden hatte, wo künftig mein Lebensmittelpunkt sein
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