Inselwaechter
Sie war noch in Gedanken, als sie Schielin fragen hörte: »Wo befanden Sie sich heute Morgen in der Zeit zwischen zwei Uhr und sechs Uhr?«
Oh. Er kam schnell zur Sache. Seit sie saßen, hatte Helmut Grohm, der den Moderator gab, ein großväterliches Lächeln aufgesetzt. Schielins Frage, die an alle drei gerichtet war, brachte es augenblicklich zum Erlöschen. Grohm verzog seinen Mund und fragte betont sachlich: »Sie wollen ein Alibi von mir?«
»Routine, Herr Doktor Grohm. Wir müssen diese Frage stellen – jedem hier«, dabei sah er in die Runde.
Grohm lachte bemüht. »Sind wir denn verdächtig?«
Schielin ging nicht auf die Frage ein. »Routine. Wie ich schon sagte.«
Grohm atmete durch die Nase ein und mit hörbarem Unmut wieder aus. »Ich war selbstverständlich im Bett.«
Lydia Naber hatte inzwischen richtig schlechte Laune. Es lief so gar nicht, wie sie sich das vorstellte und sie mochte diesen Grohm von Sekunde zu Sekunde weniger. Sie erschrak selbst, als ihr feststellend herausrutschte: »In Ihrem.«
»Bitte?!«, entrüstete sich Grohm. Melanie Schirr setzte sich auf und grinste. Claire Wilms sah erst irritiert, dann lächelnd zur Seite. Schielin beobachtete es beiläufig und erklärte nüchtern: »Wir ermitteln im Mordfall Agnes Mahler. In solchen Fällen geht es um die Genauigkeit der Angaben. Die Suche nach Gerechtigkeit erfordert zunächst Genauigkeit.«
»Schöner Spruch«, kommentierte Grohm grimmig. »Ich befand mich natürlich in meinem Bett, hier in dieser Hotelsuite.«
»Gibt es Zeugen?«, fragte Lydia Naber unschuldig und sah dabei auf ihr Notizbuch.
Noch bevor Grohm sich darüber erregen konnte, erläuterte sie: »Zimmerservice, Kellner, Anrufe … dergleichen.«
»Nichts dergleichen – und auch sonst keine Zeugen«, kam es mit leicht belegter Stimme von Grohm.
Sie bestätigte, indem sie etwas auf den Notizblock kritzelte und fragte: »Wann sind Sie hier in Lindau angekommen?«
»Im Laufe des Donnerstags«, antwortete Grohm wie selbstverständlich für alle. »Ich bin mit dem Zug bereits am frühen Nachmittag hier eingetroffen. Frau Schirr kam ebenfalls mit dem Zug, gegen Abend, und Frau Wilms später mit dem Auto. Am frühen Abend waren wir alle hier.«
Schielin begann nun, nachdem Grohm etwas erzogen worden war, mit den Fragen, die ihm im Moment wirklich wichtig erschienen. Sie wussten ja noch gar nichts über diese Agnes Mahler. »Sie waren Kollegen von Frau Mahler?«
Diesmal antwortete Claire Wilms. »Ja. Wir arbeiten … arbeiteten zusammen in der Kanzlei Grohm & Sebald.«
»Dieses arbeiteten, also die Vergangenheitsform, hätte diese Formulierung auch Geltung, würde Frau Mahler noch leben?«
Claire Wilms stutzte und sah für einen Augenblick zu Grohm, dessen Miene ausdruckslos blieb. »Nein«, sagte sie überrascht.
Schielin wurde deutlicher. »Sie waren also Kollegen. Frau Mahler war Gast im Hotel Seegarten – Sie haben hier im Bayerischen Hof Ihre Zimmer. Wie wir erfahren haben, sind die Buchungen getrennt voneinander erfolgt. Das erweckt in gewisser Weise den Eindruck, als wäre Frau Mahler eigene Wege gegangen. War das in der Vergangenheit auch so – getrennte Hotels?«
Helmut Grohm antwortete, um Claire Wilms eine Antwort zu ersparen. Ein wenig ärgerte er sich darüber, dass sie in das Gespräch eingriff, das er doch führte. So war es ausgemacht. Er sprach betont ruhig. »Ihr Eindruck ist nicht falsch und entspricht durchaus der Realität. Man muss das auch nicht verschweigen, nur weil die Situation so beklemmend ist. Ich möchte aber doch voranschicken, dass uns das Geschehen mehr als nur etwas überfordert. Verstehen Sie bitte – gerade erst müssen wir von dem Schrecklichen und Unfassbaren Kenntnis nehmen, das unserer Kollegin widerfahren ist, und schon befinden wir uns mitten in einer polizeilichen Vernehmung. Für Sie ist das Routine – den Begriff haben Sie ja schon eingeführt. Für uns ist es in einzigartiger Weise schockierend. Was die Frage angeht … in der Tat ist es so, dass es in letzter Zeit erhebliche Meinungsverschiedenheiten mit Frau Mahler gegeben hat, insbesondere über die zukünftige Ausrichtung von Grohm & Sebald. Im täglichen Geschäft war es uns nicht möglich, einen Standpunkt von gemeinsamer Tragfähigkeit zu den aufgeworfenen Fragen zu bilden. Um gemeinsam eine zukunftsweisende Perspektive zu formulieren und einen neuen Weg des Miteinanders zu beschreiten, haben wir uns diese Tage in Lindau genommen. Hier wollten wir zu einer
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