Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Inselwaechter

Inselwaechter

Titel: Inselwaechter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jakob M. Soedher
Vom Netzwerk:
der Kopf hob so weit an, dass die Kehle entblößt wurde und ihnen das Kinn entgegenstand. Seine Augen waren in dieser Position nach unten gerichtet, um nicht nach oben zur Decke, sondern das Gegenüber anzusehen. Ob es nun in seiner Absicht lag, oder unbewusst geschah: Dies war eine Position, die es erlaubte auf jemanden herabzublicken, ohne selbst erhöht zu stehen. Dazu die dem natürlichen Schutz des Kinns entblößte Kehle. Es hätte eine stolze Haltung sein können, ein Ausdruck von Entschiedenheit. Auf Lydia Naber wirkte es wie eine Drohung, wie Imponiergehabe. Es war keineswegs eine Geste der Höflichkeit, oder eine Art freundlicher Begrüßung. Vielmehr schaffte sie Distanz, suggerierte Dominanz und sollte vielleicht sogar einschüchternd wirken.
    Die Szene wirkte umso skurriler, angesichts des edlen Interieurs, das sie umgab, und der ansonsten zivilisierten Erscheinung der Menschen hier. Die feine Flanellhose, das schlichte beige Hemd, die bordeauxfarbene Krawatte mit den goldenen Sprenkeln und nicht zuletzt die Ehrfurcht gebietende Kombination von grauen Haaren und gepflegtem, ebenso grauem Bart. Eine ausdrucksvolle Erscheinung, die für sich allein genügt hätte. Lydia Naber war sich nicht sicher, wie Schielin auf die Szene reagieren würde. Er war heute so nachdenklich und schweigsam, und diesem Auftritt musste doch etwas Freches entgegengesetzt werden. Aber was? Ihre Unschlüssigkeit darüber schlug sich säuernd auf ihre Laune nieder, und noch bevor sie sich vorstellen konnten, ergriff Grohm das Wort. Er sprach ruhig und betont. So, wie jemand sprach, der es gewohnt war, eher zu anderen zu sprechen als mit ihnen. Einer, der es auch gewohnt war, dass andere ihm zuhörten. »Zunächst einmal möchte ich Ihnen sagen, dies auch für meine beiden Kolleginnen, welch großes Erschrecken, welch tiefe Betroffenheit und Trauer diese furchtbare Tat in uns allen freigesetzt hat.«
    »In dieser Reihenfolge?«, rutschte es Lydia Naber mit einem bitteren Lächeln heraus. Zugleich zückte sie ihren Dienstausweis. Schielin fragte sich, aus welcher Quelle die drei von dem informiert waren, was am Segelhafen geschehen war. Er sagte: »Obwohl wir schon bekannt zu sein scheinen, möchte ich doch die Gelegenheit ergreifen mich vorzustellen.« Er tat es für sich und Lydia. »Wir wollten mit Frau Schirr sprechen.«
    Das praktizierte Aneinandervorbeireden ließ eine Sekunde entstehen, die allen im Raum das Groteske der Situation deutlich machte. Grohms Kopf senkte sich langsam, beinahe hydraulisch. Melanie Schirr war teilnahmslos geblieben, entließ nun immerhin ihre Finger aus den Zähnen. Die Schwarzhaarige stand auf und nannte ihren Namen – Claire Wilms. Sie setzte sich anschließend auf das Sofa neben Melanie Schirr, die sich nicht angesprochen fühlte und teilnahmslos blieb. Helmut Grohm kam schnell mit der unglücklichen Situation zurecht. Mit einer offenen und einladenden Geste, die zugleich alles Vorangegangene hinwegwischte, forderte er dazu auf Platz zu nehmen. Einer gemütlichen Sofarunde stand nun nichts mehr im Wege.
    Schielin sagte: »Haben Sie bitte Verständnis für die Fragen, die die Routine unseres Berufes erforderlich machen. Sie sind bereits über das Geschehen informiert. Von wem haben Sie Auskunft erhalten?«
    Er hatte Grohm dabei angesehen, der, während er sprach, die Fingerspitzen seiner Hände im Untakt gegeneinanderstieß. »Frau Schirr war heute Morgen im Hafen und hat dort die Polizei und auch den Leichenwagen gesehen. Umstehende sprachen von einer Frau, die getötet worden sein soll. Wissen Sie – wir sind in jedem Jahr in Lindau und Frau Mahler war eine Frühaufsteherin. Sie ging immer hinaus auf die Mole am Segelhafen, um den Tag zu begrüßen. Frau Schirr hatte daher Sorge. Im Leichenwagen lag auf dem Beifahrersitz ein großer handschriftlicher Zettel, auf dem der Name Agnes Mahler stand. Daher wissen wir, bisher nur fragmentarisch, von dem Geschehen, wie Sie das eben genannt haben. Sie sind auf Grund der Erfordernisse Ihres Berufes sicher häufiger mit solch einer Situation konfrontiert. Uns hingegen ist sie gänzlich fremd. Entschuldigen Sie daher bitte unser Ihnen eigenwillig vorkommendes Verhalten.«
    Lydia war wütend. Sie hatte diesen Zettel mit dem Namen geschrieben und ihn einem der Leute vom Bestattungsunternehmen gegeben. Er sollte auf dem Sarg landen, um Verwechslungen zu vermeiden, und war nicht dazu gedacht, für jeden Vorbeilaufenden sichtbar im Leichenwagen herumzuliegen.

Weitere Kostenlose Bücher