Inselwaechter
dazwischen das Gurgeln des Baches und mattes Vogelgezwitscher. Für die Nachtigall war es noch zu früh. Zwei Wochen zuvor war Schielin mit Marja und Lena in der Nacht hierhergekommen, um dem Konzert zu lauschen. Er dachte daran, und Agnes Mahler fiel ihm ein. Was mochte sie in jenem Augenblick gedacht und erlebt haben. Schielin wünschte sich, dass es etwas ähnlich Wunderbares gewesen sein möge. Er unterlief vorsichtig die Eisenbrücke, die das Wasser hoch überspannte und auf die Wiese oberhalb von Streitelsfingen leitete. Er kraxelte hoch zum Weg und trabte Richtung Süden. Er wollte oberhalb der Bäuerlinshalde erst wieder aus der vorweggenommenen Dämmerung hervorsteigen. Die Führungsleine schwenkte locker in seiner rechten Hand. Ronsard benahm sich heute geradezu musterschülerhaft. Vor einigen Tagen hatte das gar nicht so gut geklappt. Es war, als die Kaltblüter auf die Weide gestellt worden waren. Es war so weit gekommen, dass Schielin die Führungsleine nicht nur zum Führen einsetzen und seinem Esel wieder einmal die Geschichte von der ungarischen Salami erzählen musste. Dieser autoritären Maßnahme war offensichtlich eine gewisse Nachhaltigkeit eigen. Nachhaltigkeit – ein schönes, modisches Wort, wie er fand. Wer es geschickt verwendete, war unweigerlich auf der moralisch richtigen Seite.
»Nichts passt, mein Lieber. Nichts«, sprach Schielin zu Ronsard, der von den Gedanken seines Herrn unbeeindruckt blieb und mit hängendem und wippendem Kopf nebenhertrottete. Eine Weile wartete Schielin und verfolgte den Trott seines Esels, so als ob Ronsard eine Antwort auf die Fragen geben könne. Ronsard war und blieb beleidigt. Am Rande des Weges lockten frische, hochgewachsene Grasbüschel sanft wippend und wiegend, in herrlichstem Grün. Doch Ronsard blieb stur und wie auf Schienen in seiner selbst verordneten Tretmühle. Kein Stoppen, kein Ausfall zur Seite hin, nicht das leiseste Rupfen an der Leine. Erschreckend beinahe, diese ungewohnte Fügsamkeit.
Die zusammengesunkene Gestalt an der Brüstung des Clubhauses kam ihm in Erinnerung. Mit welchem Täter hatte er zu tun, der einer Frau feige und hinterrücks ein Messer in den Rücken stieß. Und worin konnte der Grund für eine solche Tat liegen. Schielin war der Überzeugung, dass sie nichts geahnt hatte, dass sie nicht gewusst hatte, dass da jemand lauerte. Er musste schon am Ort gewesen sein, denn niemals hätte sie so entspannt an der Stelle verweilt, wenn sie von jemandem gewusst hätte. Nicht an dieser einsamen Stelle und zu dieser Zeit.
Konnte es sein, dass der kleine Dohmen dort gelauert hatte? Aber warum und woher hätte er wissen sollen, dass sie auf der Mole der Sonne entgegenwartete? Dieses Wissen hatten aber die drei Kollegen gehabt.
Ronsard schnaubte laut und schüttelte den Kopf. Eine verfrühte Wespe tanzte hysterisch um seine Ohren.
Schielin versuchte sich nacheinander Melanie Schirr, Grohm und Claire Wilms bei der Tatausführung vorzustellen. Diese drei gaben sich vermeintlich offen und kooperativ und verbargen doch Geheimnisse. Grohm war gerade noch rechtzeitig mit seinem Morgenspaziergang rausgerückt. Ein fieser Typ. Claire Wilms hatte sie mit ihrer Aussage bewusst belogen. Blieb diese Melanie Schirr, ein Mensch, den er nicht einschätzen konnte. Was war ihr Geheimnis? Es blieb vorerst dieser Dohmen. Wenn sie ihn erst einmal hätten, dann wäre es nur eine Frage der Zeit, bis sie die Verbindung zu Agnes Mahler ans Tageslicht brächten – falls es eine gab. Doch dazu mussten sie ihn erst einmal kriegen. Er war zur Tatzeit am Tatort gewesen und flüchtig. Das reichte. Die Frage nach dem Motiv war im Moment zweitrangig.
Schielins Weg führte aus dem Tobel heraus und in einem sanften Bogen, durch Obstgärten und Wiesen, zur Bäuerlinshalde. Der Blick hinunter auf die Stadt und den See beruhigte ihn. Erste Lichter glitzerten und die Schiffe schnitten glatte Rinnen in die Wasseroberfläche.
Hundeschule
Als er am nächsten Tag auf die Dienststelle kam, fühlte er sich ausgeschlafen und fit. Lydia Naber hingegen hatte eine unruhige Nacht hinter sich und am frühen Morgen ihre nutzlosen Einschlafversuche beendet. Dem Filiermesser war es gelungen, bis in ihre Träume zu schleichen. Eine ausgiebige Dusche hatte den scheinbar vorhandenen Belag belastender Illusionen von der Haut fortgewaschen, und als sie losgefahren war, herrschte draußen immer noch Dunkelheit. An diesem Dienstagmorgen war sie die Erste auf der Dienststelle, und damit
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