Inselzauber
dies die letzte Reise war, die ich mit meinen Eltern unternommen habe. Seitdem ist es immer mein Traum gewesen, noch einmal dorthin zu fahren, jedoch hat es sich bislang nicht ergeben.
Ehe ich es mich versehe, ist Heiligabend, und die Abreise von Bea und Vero rückt immer näher. Um nicht nur in der Bücherkoje weihnachtliche Stimmung zu haben, dekoriere ich am Vorabend des 24. Dezember auch die Wohnung und verteile sogar ein paar Tannenzweige in meinem Zimmer. Ich liebe den strengen, beinahe bitteren Duft von Kiefernnadeln und muss beim Anblick der Zweige immer an Weihnachten in Schweden denken, auch wenn ich noch nie dort war. An
Weihnachten in Bullerbü,
um genau zu sein, denn neben den Büchern von Pu dem Bären hatte es mir früher vor allem die heile Welt von Astrid Lindgren besonders angetan. Wie die meisten Kinder liebte auch ich Pippi Langstrumpf. Doch wenn ich ehrlich sein soll, hatte ich mich immer schon eher mit der braven Annika identifiziert als mit der für meinen Geschmack viel zu wilden und verrückten Pippi.
Seit der Lektüre dieser Bücher halte ich es mit der Weihnachtsdekoration in den klassischen Farben Rot-Grün. Kein Gold, kein Silber, kein anderer Schnickschnack. Ich glaube, Bea ist mir sehr dankbar dafür, denn sie wirkte nicht wirklich begeistert, als ich ihr beim Frühstück eröffnete, dass ich Heiligabend so richtig kitschig zelebrieren wolle. Bea hat in diesem Jahr eindeutig ein anderes Verhältnis zu Weihnachten als ich – sie träumt bereits von kokosnussbehangenen Palmen und nicht von Stechpalmen und Mistelzweigen.
Den Weihnachtsabend verbringen wir bei Vero und Hinrich, deren Kinder und Enkel zu Besuch kommen, so dass wir eine richtig große Runde sind. Trotz des andächtigen Anlasses herrscht heilloses Chaos, alle rufen durcheinander, überall liegt zerrissenes Geschenkpapier herum, und die Musik aus dem Radio hat es schwer, das Stimmengewirr zu durchdringen.
Bea und Vero schenken mir einen wunderschön bestickten Parka, eine bunte Strickmütze mit langen Troddeln, die einem panflötespielenden Indio alle Ehre machen würde, und einen passenden Schal. Nun kann mir die »steife Brise« auf der Insel kaum mehr etwas anhaben. Ich bin gerührt und drücke die beiden, so fest ich kann.
»Ihr werdet mir fehlen«, sage ich aus tiefstem Herzen und versuche gleichzeitig, jeden Gedanken an Stefan und Melanie zu verdrängen. Diesen Abend haben Stefan und ich traditionsgemäß immer zu zweit verbracht, bevor wir am ersten Weihnachtstag zu Stefans Eltern nach Köln gefahren sind. Da Köln so weit von Hamburg entfernt ist, haben wir es meist nicht mehr bis nach Sylt geschafft, so dass ich die letzten fünf Jahre Weihnachten ohne Tante Bea gefeiert habe.
Was die beiden wohl in diesem Augenblick tun?, frage ich mich und versuche jeden Gedanken daran zu verscheuchen, dass sie womöglich gerade verliebt turtelnd im Bett liegen und sich Gedanken über den Namen des Babys machen.
»Alles in Ordnung mit dir?«, fragt Vero und hält mir ein Glas Punsch vor die Nase. »Hier, trink den, damit dir nachher in der Kirche warm genug ist. Vielen Dank noch mal für die tollen Reiseführer, die du Bea und mir geschenkt hast. Und für den Englisch-Sprachkurs. Ich werde fleißig üben«, verspricht sie. Vero hat die Weltreise von Hinrich anlässlich ihres dreißigsten Hochzeitstages geschenkt bekommen und prostet mir nun fröhlich zu. »Frohe Weihnachten, Lissy. Auf dich und darauf, dass bald alles besser wird!«
Darauf trinke ich gerne, füge aber tapfer noch ein »Auf euch. Auf eure Reise!« hinzu, als sich nun auch Bea mit ihrem Punsch zu uns gesellt.
Um 23.00 Uhr gehen wir zur Christmette und lauschen andächtig den Worten von Pater Lorenz, der – offensichtlich beschwingt von Glühwein oder dergleichen – eine flammende Rede hält. Beim Anblick der festlich geschmückten Kirche, der feierlichen Gesichter der Kinder und der schönen Kleider der Gottesdienstbesucher wird auch mir endlich warm ums Herz. Stefan beginnt ein wenig in die Ferne zu rücken.
In der Reihe schräg vor uns entdecke ich neben vielen anderen bekannten Gesichtern Leon und habe so wenigstens ausgiebig Gelegenheit, seine Rückenansicht zu studieren. Die welligen Haare kringeln sich über dem grauen Schal, den er sich um den Hals geschlungen hat. Den Parka hat er gegen einen anthrazitfarbenen Wollmantel getauscht, und seine Füße stecken in schwarzen Glattlederschuhen. Neben ihm sitzt eine blonde junge Frau, die Haare zu einem
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