Inselzauber
sich komplett. Geht sie sonst eher leicht gebückt, strafft sich mit einem Mal ihr Rücken, sie scheint um mehrere Zentimeter zu wachsen und ist völlig in ihrem Element. Die Kunden lieben sie dafür, und selten geht jemand hinaus, ohne mindestens zwei der von Frau Stade empfohlenen Bücher gekauft zu haben.
Die Musik bleibt anhaltend laut, und ich meine Wörter wie »fuck you« und »damned« zu vernehmen, was in der Tat keine positiven Rückschlüsse auf die Gemütsverfassung dieser Nele zulässt.
Liebeskummer hin oder her – das ist kein Grund, derart die Straße und unsere Buchhandlung zu beschallen. Schon gar nicht mit so grauenvoller und aggressiver Musik! Ob ich mal nach nebenan gehe und sie bitte, die Lautstärke ein wenig zu drosseln?
»Frau Stade, ich bin gleich zurück«, unterrichte ich meine Kollegin und entledige mich der Gummihandschuhe, die bis eben noch meine Hände vor der Putzlauge geschützt haben.
Energischen Schrittes marschiere ich nach nebenan, kann aber zunächst niemanden im Möwennest entdecken. Auf diese Weise habe ich zumindest Gelegenheit, in Ruhe den Innenraum des Cafés zu begutachten, das ich bislang nur von außen gesehen habe. Die Wände sind ochsenblutrot gestrichen, für Sylter Verhältnisse eher ungewöhnlich, die Möbel aus Teakholz. Auf den ersten Blick wirkt das alles zwar recht dunkel, aber auch sehr gemütlich. Besonders ein mit rotem Samt bezogenes Sofa hat es mir angetan, es bildet das Herzstück des Cafés. Überall stehen Kerzenständer und Holzmöwen, die einen eigentümlichen Kontrast zu dem mediterranen Ambiente des Interieurs bilden.
»Was wollen Sie hier, können Sie nicht lesen?«, reißt mich eine pampige Frauenstimme aus meinen Betrachtungen.
Schuldbewusst stelle ich eine der Möwen, die ich mir gerade näher angesehen habe, auf den Tisch zurück. »Was heißt, ich kann nicht lesen?«, antworte ich ebenfalls unwirsch.
Schon funkeln wir uns finster an: Nele Sievers vom Möwennest und Lissy Wagner von der Bücherkoje.
»Auf dem Schild an der Eingangstür steht
Closed,
oder können Sie etwa kein Englisch?«, giftet die rothaarige junge Frau weiter und blitzt mich aus ihren grünen Augen an.
»Wenn Gäste hier derart unerwünscht sind, dann schließen Sie doch einfach ab«, blaffe ich – mittlerweile ernsthaft sauer – zurück, und schon sind wir mitten im Zickenkrieg. »Bei der grauenvollen und lauten Musik will hier sowieso niemand sitzen«, fahre ich fort, mache auf dem Absatz kehrt und rausche hinaus.
Ich kann gerade noch hören, dass Nele mir so etwas wie »Tussis wie Sie will ich hier auch gar nicht haben!« hinterherruft.
»Ärger?«, vernehme ich auf einmal eine bekannte Stimme hinter mir und bin froh, dass ich nach dieser Zimtzicke wenigstens einen netten Menschen treffe, nämlich Leon. »Ich wollte gerade einen Tee trinken gehen«, sagt er, »und dich fragen, ob du nicht Lust hast, mich zu begleiten.«
Ich murmle etwas von »Cappuccino«, und wir gehen fast wortlos weiter zur Kleinen Teestube, die völlig überfüllt ist. Sylt ist ab dem zweiten Weihnachtsfeiertag ähnlich gut besucht wie im Hochsommer, wenn nach den Norddeutschen die Nordrhein-Westfalen und die Bayern wie ein Heuschreckenschwarm über die Insel hereinbrechen und alles bevölkern, was es zu bevölkern gibt.
Doch wir haben Glück, und es werden gerade zwei Plätze an einem größeren Tisch frei. Die Kellnerin, die unsere Bestellung aufnimmt, scheint Leon zu kennen und lächelt ihm freundlich zu, als er die Karte verlangt.
»Also, ich weiß ja nicht, wie der Cappuccino hier ist, aber die frischen Friesenwaffeln mit Pflaumenmus sind ein Gedicht. Die haben noch jede miese Laune in null Komma nichts vertrieben«, sagt Leon.
Also bestelle ich diese Kalorienbombe zusätzlich zum Rauchtee mit in Rum getränkten Kirschen, einer hauseigenen Spezialität, für die ich mich anstelle des Cappuccinos entschieden habe.
»Und? Macht es Spaß in der Buchhandlung?«, erkundigt sich Leon, als der Tee vor uns steht, und sieht mich aus seinen dunkelblauen Augen intensiv an.
»Das kann ich noch nicht genau sagen«, antworte ich und rühre gedankenverloren in meinem Getränk. »Bislang habe ich nur den hektischen Weihnachtstrubel mitbekommen. Da ging es weitestgehend darum, erst mal der Massen Herr zu werden und Geschenke zu verpacken. Momentan weiß ich weder, wie es ist, wirklich Buchhändlerin zu sein, noch habe ich mich näher damit beschäftigt, welche Bücher wir führen, oder in Ruhe
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