Inselzauber
strengen Pferdeschwanz zusammengebunden, die immer wieder zu ihm hinübersieht und ihm etwas zuflüstert. Vertraut stecken die beiden beim Singen die Köpfe zusammen, und ich überlege, ob sie wohl seine Freundin ist.
Im Anschluss an die Christmette treffen wir die beiden vor der Kirche, wo Bea und Vero noch einen kleinen Plausch mit ein paar Freunden halten. Leon stellt mir die Blonde an seiner Seite als Julia vor, ohne näher auf sein Verhältnis zu ihr einzugehen. Ich bemerke, wie Bea Julia leicht irritiert ansieht, aber dann gerät die Begegnung über die allgemeinen Festtagswünsche ins Hintertreffen, und wir kehren nach Hause zurück.
Die beiden Weihnachtsfeiertage sind geprägt von hektischem Packen, Organisieren, dem Schreiben von Listen und letzten Anweisungen im Hinblick auf die Buchhandlung. Alle nötigen Impfungen und Einkäufe für die Reise (neidisch blicke ich auf eine Ansammlung von Sonnenhüten, Sandalen, Strandtüchern und Taschen) haben die beiden termingerecht erledigt, so dass es nur noch das Kunststück zu vollbringen gilt, die Gepäckmassen in den beiden Koffern unterzubringen und nicht das Gewichtslimit für den Flug nach Miami zu sprengen. Dann ist es endlich so weit: Ich bringe Bea und Vero mit dem Jeep nach Hamburg-Fuhlsbüttel.
Am Flughafen verdrücke ich dann doch ein paar Tränen – insbesondere, als ich die beiden die Sicherheitskontrolle passieren lassen muss. Da gehen sie hin: Pat und Patachon, die beiden unterschiedlichen Freundinnen, die sich gemeinsam auf das wohl größte Abenteuer ihres Lebens einlassen.
»Alles Gute euch beiden, kommt gesund wieder«, flüstere ich, als Bea und Vero meinem Blickfeld entschwinden, und bin froh, dass Timo bei mir ist und mir die Hand leckt. »Komm, Süßer, jetzt geht’s wieder heim«, sage ich und stelle verwundert fest, dass ich Sylt gerade als mein Zuhause bezeichnet habe.
»Was ist DAS denn für ein Lärm?«, frage ich am nächsten Tag Birgit Stade, seit heute meine einzige Mitstreiterin und Verbündete in der Bücherkoje, als plötzlich ohrenbetäubende Musik ( EMINEM ?) auf die Straße und damit durch die geöffnete Eingangstür in die Buchhandlung dröhnt.
»Es ist wieder so weit«, antwortet meine Kollegin lediglich achselzuckend und geht unbeirrt weiter ihrer Tätigkeit nach.
Wir sind gerade dabei, das Schlachtfeld vom letzten Arbeitstag aufzuräumen, die Weihnachtsdekoration abzuhängen und die Regale zu putzen. So steht es zumindest auf der To-do-Liste, die Bea uns hinterlassen hat. Und daran halten wir uns natürlich.
»Was ist wieder so weit?«, frage ich und überlege, ob ich die Tür schließen soll. Draußen herrscht Eiseskälte, doch Beas strenge Anordnung lautet, den Eingang stets geöffnet zu halten, um die Kunden, wie sie sagt, »einzuladen« und keine hemmenden Barrieren aufzubauen.
»Nele hat wieder Liebeskummer«, lautet die lakonische Antwort von Frau Stade, die ungerührt weiter Weihnachtskugeln und vertrocknete Tannenzweige auseinandersortiert.
»Nele? Ist das nicht die Besitzerin vom Möwennest?«, frage ich weiter nach, denn nun bin ich WIRKLICH neugierig!
»Ja, das ist die vom Möwennest. Und wenn Nele Liebeskummer hat, was nicht gerade selten passiert, weil sie sich ständig mit den falschen Männern einlässt, dreht sie die Musik so laut auf und singt mit, dass man es bis nach Westerland hört. Das ist völlig normal. Kein Grund, sich Sorgen zu machen!«, antwortet meine Kollegin und legt die Weihnachtskugeln ordentlich in einen Karton.
Birgit Stade ist Mitte fünfzig, gelernte Buchhändlerin und sogenannte erste Sortimenterin in der Bücherkoje, was ich angesichts der Tatsache, dass es außer Bea und ihr keine weiteren Arbeitskräfte gibt, witzig finde. Aber Frau Stade nimmt diese Aufgabe und die damit verbundene Verantwortung sichtlich ernst, was mir natürlich nicht ganz unrecht ist. Als humorvoll, warmherzig oder besonders nett würde ich sie nicht bezeichnen, eher als nüchtern und ein wenig langweilig. Aber so unspektakulär ich sie auch als Person empfinde, so beeindruckt bin ich von ihrem buchhändlerischen Wissen.
Sie muss so gut wie nie nach einem Titel in den Katalogen suchen. Die Kunden brauchen nur ein Stichwort zu nennen, und schon weiß Frau Stade, wie das Buch heißt, wer es verfasst hat und ob es am Lager ist. Und wenn sie Bücher empfiehlt, wird sie auf einmal ein komplett anderer Mensch. Ihr Gesicht nimmt Farbe an, ihre blassblauen Augen leuchten, ihre Körpersprache verändert
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