Inselzauber
Literaturschickis um die Häuser gezogen bin, anstatt ihr wie versprochen zu helfen.
»Hast du heute Abend Zeit?«, entgegne ich, was zwar nicht direkt Neles Frage beantwortet, aber ein freudiges Lächeln auf ihr Gesicht zaubert.
Zum ersten Mal bemerke ich die Sommersprossen auf ihrem Nasenrücken und im Dekolleté, die mir vorher gar nicht aufgefallen sind, weil unsere beiden Treffen quasi im Dunklen stattgefunden haben. Irgendwie erinnert mich Nele heute fatal an Pippi Langstrumpf, und als wäre das ihre Absicht gewesen, trägt sie über ihrer groben Wollstrumpfhose rot-weiß geringelte Legwarmer, die wunderbar zu ihrem knallroten Cordminirock passen, den sie unter ihrem Flickenteppichmantel trägt. Jede andere hätte in diesem Aufzug seltsam deplaziert ausgesehen, nicht jedoch Nele. Vielleicht hätte sie lieber Modedesign studieren sollen anstelle von Kinderbuchillustration?
»Ja, habe ich«, lautet zu meiner Freude die Antwort. »Allerdings erst um zehn, wenn das Möwennest schließt. Das ist dir bestimmt zu spät, oder?«
Ich überlege kurz, denn das ist in der Tat nicht die Uhrzeit, die ich bevorzuge, zumal ich letzte Nacht nicht besonders viel und gut geschlafen habe. Aber egal, sage ich mir. Ich bin schließlich keine achtzig!
»Magst du zu mir kommen? Dann zeige ich dir mal meine Wohnung und mein Atelier, falls dich das interessiert. Ist gleich über dem Café, kannst sie nicht verfehlen.«
»Du hast ein Atelier?«, frage ich verwundert, werde aber in meinen Überlegungen von einer alten Dame unterbrochen, die eine 55-Cent-Briefmarke kaufen will. Wie ich das hasse! Als ich die Schublade aufziehe, stelle ich fest, dass wir gar keine Briefmarken mehr haben. Nur noch die zu 2,20 Euro, nach denen äußerst selten verlangt wird. »Sorry, muss mal eben zur Post flitzen. Bis heute Abend«, sage ich zu Nele, die schon halb auf der Straße steht, und gleichzeitig entschuldigend zu der Kundin, die mich verwundert ansieht.
»Was? Sie müssen für die Briefmarken extra zur Post? Und ich soll so lange hier warten? Da kann ich gleich selbst hingehen«, protestiert sie.
Am liebsten würde ich darauf antworten, dass sie mir von dort gern einen Vorrat an Postwertzeichen mitbringen könne. Aber das verkneife ich mir lieber. Natürlich bleiben die unangenehmen Aufgaben an mir hängen, weil Birgit Stade mit wichtigeren Dingen beschäftigt ist. Zum Beispiel mit der Sichtung der neuen Verlagskataloge, Vorschauen genannt, die in diesen Tagen en masse bei uns eintreffen. Sie verbringt Stunden um Stunden damit, die Bestandslisten der jeweiligen Verlage mit unseren vorrätigen Titeln abzugleichen, Bestellungen zu notieren und die angekündigten Neuerscheinungen zu begutachten.
In den kommenden Wochen werden wir fast täglich Besuch von Verlagsvertretern bekommen, die besagte Neuerscheinungen nochmals detailliert präsentieren und uns darüber informieren, was die Verlage an PR -Maßnahmen für ihre Schwerpunkttitel geplant haben. Wenn ich mir das so anhöre, gewinne ich den Eindruck, als zählten Autoren und Inhalte nichts mehr, sondern dass es ausschließlich darauf ankommt, ob und wie viel für das jeweilige Buch geworben wird. Wenn man es knapp zusammenfasst, würde es reichen, sich auf die Titel zu konzentrieren, die mit dem Button »Talkshow-Auftritt bei Johannes B. Kerner« gekennzeichnet sind.
Allmählich verstehe ich Bea immer besser, die sich solchen Kriterien, die letztlich gar keine sind, konsequent verweigert. Was allerdings oftmals zur Folge hat, dass sie Titel nicht am Lager hat, von denen alle Welt spricht, und auf diese Weise häufig Umsatz verschenkt. Aber solange sie es sich leisten kann und auf diese Weise Autoren eine Chance gibt, die sonst kaum verkauft werden, soll mir das nur recht sein. Ich bin, was das betrifft, sehr stolz auf meine Tante und habe sie immer wegen ihrer Kompromisslosigkeit beneidet.
Im Übrigen wird diese Haltung durchaus honoriert. Im Weihnachtsgeschäft habe ich es häufig erlebt, mit welcher Inbrunst und Leidenschaft sie Bücher empfohlen hat, die aus Verlagsperspektive eher zu den Außenseitern zählen. »Gerade da liegen oftmals die größten Schätze verborgen«, hat sie mir immer gesagt und sich wie ein kleines Kind gefreut, wenn die Kunden ihren Empfehlungen blindlings gefolgt sind und Tage später völlig begeistert von ihren Leseerlebnissen erzählt und Nachschub verlangt haben.
Vermutlich ist es ja auch genau DAS , was diesen Beruf letztlich ausmacht – und woher auch
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