Inselzauber
erwartet mich schon in Hamburg außer meinem Job? Momentan habe ich noch nicht einmal eine Wohnung. Stefan hat alle meine Möbel in den Keller gebracht und mir versprochen, sie dort so lange zu verwahren, bis ich nach meiner Rückkehr eine Wohnung gefunden habe. Aber in Hamburg eine bezahlbare Wohnung in einem schönen Stadtteil zu ergattern ist derzeit so gut wie unmöglich. Schnell verdränge ich den Gedanken an meine Zukunft und überfliege stattdessen den Anzeigentext, den Birgit Stade nach einer alten Vorlage verfasst hat. Besonders animierend oder aufregend klingt er nicht, aber wenn es bislang so funktioniert hat …
Am Abend beschließe ich, noch einmal kurz bei Nele vorbeizusehen, bevor ich meine Runde mit Timo drehe. Doch das Möwennest ist dunkel, und das
»Closed«
-Schild hängt an der Tür. Verwundert stehe ich vor dem Café und überlege, was Nele wohl veranlasst haben könnte, früher zu gehen. Ob der Banktermin vorgezogen wurde?
»Was meinst du, Timo, wo Nele wohl ist?«, frage ich den Hund, der bei der Erwähnung ihres Namens fröhlich bellt und mit dem Schwanz wedelt. »Wollen wir mal nachsehen, ob sie oben in der Wohnung ist?«, frage ich und lege ihm die Leine an.
Eine Minute später klingle ich an Neles Tür, doch sie öffnet nicht.
»Möchtest du zu mir?«, vernehme ich auf einmal die Stimme von Leon, der gerade die Treppe hinaufkommt, und werde leicht verlegen.
Natürlich will ich NICHT zu ihm, sondern suche seine Nachbarin, wie ich ihm erkläre.
»Nele hat das Café geschlossen?«, fragt Leon, nun ebenfalls irritiert. »Das ist in der Tat ziemlich ungewöhnlich. Ob sie krank ist?«
Genau, das wird es sein, das ist die Erklärung! Nele geht es nicht gut, sie sitzt gerade in irgendeiner Arztpraxis, und wir machen uns unnötig Gedanken. Wäre auch kein Wunder, wenn sie bei all dem Ärger krank geworden wäre. »So wird es sein«, antworte ich und wünsche Leon noch einen schönen Abend. Ich werde später versuchen, Nele anzurufen, dann ist sie sicher wieder zurück.
Doch sie kommt nicht nach Hause.
Sie reagiert auch nicht auf meine Anrufe auf ihrem Handy.
Ich versuche es jede Stunde, für den Fall, dass der Akku ihres Mobiltelefons leer ist oder sie keinen Empfang hat.
Ich rufe um 21.00 Uhr an.
Um 22.00 Uhr.
Um 23.00 Uhr.
Doch immer ohne Erfolg.
Ob sie sich vielleicht bei Valentin Kremer ausweint?
Oder bei Inga ist?
Oder ob sie sich zu Hause vergräbt, weil ihr alles über den Kopf wächst?
Um 1.00 Uhr morgens starte ich einen letzten erfolglosen Versuch, für den ich mich fast ein wenig schäme, weil es mir an sich nicht zusteht, Nele hinterherzutelefonieren.
Schließlich bin ich nicht ihre Mutter.
Andererseits hat Nele auf dieser Insel keine engen Kontakte, und irgendwie fühle ich mich für sie verantwortlich, seit ich von ihren Schwierigkeiten weiß.
Um 2.00 Uhr morgens rufe ich mich schließlich zur Räson und denke an meine Mutter, die als Psychologin sicher eine Menge dazu zu sagen gehabt hätte, wie ich mit dieser Situation umgehe. Ich höre sie förmlich sagen: »Lissy, sieh dir mal lieber dein Leben genau an. Du bist unter anderem hier auf dieser Insel, um dir darüber klar zu werden, wie es mit dir weitergehen soll. Fang gefälligst damit an, und lenk nicht von dir ab, indem du versuchst, Neles Angelegenheiten in den Griff zu bekommen!«
Natürlich habe ich als Zehnjährige keine derartigen Gespräche mit ihr geführt. Aber ich bin mir sicher, dass eine Unterhaltung mit ihr heute so oder zumindest so ähnlich abgelaufen wäre.
Nach einer unruhigen Nacht kann ich es kaum erwarten, mein Handy anzuschalten, um nachzusehen, ob Nele sich gemeldet hat. Keine Nachricht von ihr. Stattdessen haben BuV geschrieben, dass es ihnen gutgehe und sie nach Mexiko mittlerweile Kurs auf Honolulu nähmen. Ich sehe die beiden vor meinem geistigen Auge in Baströckchen, behängt mit kitschigen Blumenketten und in bunten Hawaii-Hemden mit einem Mai Tai in der Hand am Strand stehen.
Dieser Gedanke übertönt einen Moment die Sorge um Nele, und da auch Paula sich heute einigermaßen kommunikativ erweist (sie grüßt mich!), mache ich mich voller Elan auf den Weg in die Bücherkoje, um zu sehen, was der neue Tag bringt. Um 11.00 Uhr betritt Leon die Buchhandlung und erkundigt sich nach Nele. Das
»Closed«
-Schild hängt immer noch, und allmählich verstärkt sich mein Gefühl, dass hier etwas nicht stimmt.
Selbst wenn ich einkalkuliere, dass Nele heute Morgen einen Termin bei der
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