Inselzauber
Bank hat, kann ich mir nicht vorstellen, dass sie ihr Café erst derart spät öffnen würde.
»Findest du das nicht allmählich ein bisschen seltsam?«, frage ich Leon.
Er wirkt mittlerweile ebenfalls beunruhigt und antwortet, dass er dergleichen noch nicht erlebt habe, seit er Nele kennt. Auch hält er die Theorie, dass sie krank sein könnte, nicht mehr für plausibel, da sie sich bei hohem Fieber oder Ähnlichem sicher an ihn gewandt hätte. Wir beschließen, dass wir im Moment nichts weiter tun können, als abzuwarten und uns gegenseitig zu informieren, für den Fall, dass Nele sich bei einem von uns meldet.
Ob sie tatsächlich Ernst gemacht hat und sich auf dem Weg ins Ausland befindet?, frage ich mich, habe aber gleichzeitig keine Vorstellung davon, wie Nele ihr Vorhaben ohne Bargeld realisiert haben sollte. Ein Ticket nach Mexiko bekommt man schließlich nicht zum Schnäppchenpreis eines Mallorca-Fluges. Auch nicht für einhundert Euro …
Der Tag vergeht, und im Möwennest rührt sich immer noch nichts. Mein Handy bleibt stumm, Leon lässt ebenfalls nichts von sich hören, also versuche ich weiterhin, mich so gut es geht abzulenken.
Es wird Abend, Tag und wieder Abend. Schließlich vergeht fast eine Woche ohne ein Lebenszeichen von Nele.
Der Briefkasten des Cafés quillt mittlerweile über, so dass ich die gesamte Post herausnehme und mit Hilfe eines Schraubenziehers auch den Rest, den ich nicht sofort greifen kann, heraushole. Als ich die Briefe auf dem Tresen der Bücherkoje nach den Absendern durchsehe, kann ich auf den ersten Blick erkennen, dass es sich hauptsächlich um Rechnungen und Mahnungen handelt. Schreiben von der Bank, von ihrem Vermieter, von Lieferanten und sogar eine Benachrichtigungskarte von der Post, dass zwei Einschreiben für sie bereitliegen.
Mist, Mist, Mist, denke ich, habe keine Ahnung, was ich jetzt tun soll, und frage mich, ob es wirklich meine Aufgabe ist, mich darum zu kümmern, was aus dem Möwennest wird. Ich schwanke zwischen Sorge und Wut darüber, dass Nele sich überhaupt nicht meldet. Ein kleines Lebenszeichen würde mir schon genügen.
Immer wieder blicke ich durch das Schaufenster des Cafés, um zu sehen, ob ich Blairwitch irgendwo entdecke. Was auch immer Nele macht – ich kann mir nicht vorstellen, dass sie ihre Katze im Stich lässt. Doch obwohl ich Blairwitchs Namen durch die Tür rufe, ist weit und breit keine Katze in Sicht. Sie scheint sich genauso in Luft aufgelöst zu haben wie ihre Besitzerin.
Am Ende einer Woche ohne ein Lebenszeichen beschleicht mich eine andere Befürchtung. Eine weit schlimmere als die Vorstellung, dass Nele sich ohne Bargeld nach Mexiko oder Indien durchgeschlagen haben könnte.
Was, wenn sie gar nicht unterwegs ist, sondern sich etwas angetan hat?
Was, wenn sie tot in ihrer Wohnung liegt?
Nachdem dieser Gedanke sich erst einmal bei mir eingenistet hat, weiß ich gar nicht mehr, was ich tun soll. Immer wieder rufe ich mich zur Ordnung und rede mir gut zu, dass ich zu viele Filme gesehen und zu viele Bücher gelesen habe. Doch mittlerweile hat es sich auch in Keitum herumgesprochen, dass Nele Sievers spurlos verschwunden ist. Mehrmals am Tag kommen Gäste in die Bücherkoje und erkundigen sich nach dem Verbleib unserer Nachbarin. Leon sieht das Ganze etwas gelassener als ich (Männer!), wirkt jedoch mit seiner Sachlichkeit zwischenzeitlich auch beruhigend auf mich. Aber auch er ist der Meinung, dass wir uns mit Neles Eltern in Verbindung setzen sollten, für den Fall, dass sie sich nicht innerhalb der nächsten Tage bei uns meldet.
»Meinst du nicht, wir sollten erst einmal prüfen, ob sie sich etwas angetan hat, bevor wir ihre Eltern in Aufruhr versetzen?«, frage ich und bin kurz davor, die Polizei einzuschalten.
Leon verspricht, über meinen Einwand nachzudenken, und so widme ich mich wieder den Vorbereitungen für unsere Veranstaltung, die bereits große Resonanz ausgelöst hat. Genau genommen haben wir so viele Anmeldungen, dass wir zahlreiche Interessenten auf die Warteliste setzen müssen, weil die Bücherkoje für einen derartigen Andrang zu klein ist.
Am späten Nachmittag erhalte ich eine SMS von Leon, in der er mich darum bittet, nach Ladenschluss zu ihm in die Wohnung zu kommen. Neugierig klingle ich bei ihm und sehe erstaunt auf den Werkzeugkasten, den er in der Hand hält, während er auf Neles Tür deutet.
»Du willst doch nicht etwa …?«, frage ich und beginne gleichzeitig zu zittern. Ein Teil von mir
Weitere Kostenlose Bücher