Inselzauber
ihrem Haus für das Möwennest? Und waren nicht die Geschäfte in den vergangenen Wochen wieder besser gelaufen? Zumindest nach Neles Aussage? Verwirrt und bedrückt gehe ich zurück in die Küche, stelle den Geschirrspüler an, füttere Blairwitch und schließe das Café ab.
Wie unter Schock steige ich auf mein Fahrrad und radle zurück zum Kapitänshaus. Ich bin davon ausgegangen, dass Nele das Schlimmste überstanden hat. Und nun läuft die Frist in gut drei Wochen ab, und anstatt etwas zu unternehmen, sitzt Nele mit ihrem Lektor auf einem Segelboot und flieht vor der Realität. Aber das Allerdümmste an der Situation ist, dass ich nicht weiß, wie ich mit dieser Information umgehen soll. Wenn ich meine Freundin darauf anspreche, wird sie mit Recht sagen, dass ich meine Finger von Briefen lassen soll, die nicht an mich adressiert sind. Andererseits kann ich diese brisante Information auch nicht ignorieren!
»Und, wie war’s?«, frage ich am nächsten Abend, als Nele mit hochroten Wangen und weit mehr Sommersprossen als sonst im Möwennest auftaucht.
»Wunderschön«, sagt meine Freundin strahlend, begrüßt ihre Katze und händigt Lisa den Lohn aus.
Woher sie wohl das Geld dafür hat?
Nachdem Lisa gegangen ist, nehmen wir uns zwei Stühle und Decken und setzen uns vor die Tür des Cafés. Mit jedem Tag steigen die Temperaturen, und so haben wir die Chance, noch ein wenig Abendluft zu schnuppern, bevor die Sonne untergeht. Ich erfreue mich am würzigen Duft eines blühenden Kastanienbaumes, der die Straße säumt, und betrachte versonnen die weißen Blütenkerzen, die in den abendlichen Himmel ragen. Momentan explodiert die Natur, und ich kann mich kaum an ihr sattsehen.
Leider kann ich das alles nicht unbeschwert genießen, weil ich am liebsten Nele sofort auf den Brief von der Bank ansprechen würde. Ich wage es jedoch nicht, weil meine Freundin so fröhlich wirkt, dass ich es nicht übers Herz bringe, ihr die Laune zu verderben.
»Hattet ihr überhaupt genug Wind zum Segeln?«, erkundige ich mich und trinke einen Schluck Tee.
»Nein, hatten wir nicht«, antwortet Nele und lächelt vielsagend. »Aber wir haben uns auch so ganz gut amüsiert. Wir haben uns stattdessen für ein paar Stunden ein Motorboot gemietet und sind ein wenig um die Insel gebraust. Übernachtet haben wir dann im Fährhaus (das ist ein nobles Hotel am Hafen), wo wir zum Glück das letzte Zimmer bekommen haben. Heute haben wir ausgiebig auf der Terrasse gefrühstückt und sind spazieren gegangen«, fährt Nele mit der Schilderung ihres Wochenendes fort, so als könnte kein Wässerchen sie trüben und als sei alles in bester Ordnung.
»Und wie konntet ihr euch diesen Trip leisten?«, bohre ich weiter und komme mir dabei vor wie Fräulein Rottenmeier, die strenge Gouvernante von Clara und Heidi im Buch von Johanna Spyri. »Hat Alexander dich wenigstens eingeladen?«
»Ja, hat er, keine Sorge«, antwortet Nele nun mit leicht genervtem Unterton.
Ich frage mich, wie viel so ein Lektor wohl verdient, dass er sich mal eben einen Wochenendtrip nach Sylt inklusive Bootstour und teurem Hotel leisten kann. Aber wenn Nele Spaß hatte, soll es mir recht sein, schließlich wartet noch genug Unerledigtes und Unangenehmes auf sie.
»Und bei dir? Wie war dein Ausflug mit Leon?«, erkundigt sie sich nun nach meinen Erlebnissen, und ich erzähle, wie schön es war und dass Julia Leon wegen ihres Vorgesetzten bei der
Berliner Zeitung
abserviert hat. »Wusste ich es doch!«, sagt Nele und sieht ziemlich wütend aus. »Diese karrieregeile Schlange! Solange sie dachte, dass Leon ihr beim
Tagesspiegel
nützlich sein könnte, war er gut genug. Doch jetzt, wo sie nach Berlin will, ist natürlich auf einmal alles aus. So viel zum Thema wahre Liebe.«
»Was ist mit dir? Bist du jetzt in Alexander verliebt, oder ist er wieder nur ein Zeitvertreib, wie Valentin?«
»Keine Ahnung«, antwortet meine Freundin und nestelt an ihren Haaren. »Manchmal glaube ich, dass ich gar nicht weiß, was wahre Liebe ist. Ich bin gern mit Männern zusammen und habe meinen Spaß. Aber bevor ich leide, nehme ich es ehrlich gesagt lieber locker. Es gibt doch kaum Männer, die ihre Frauen oder Freundinnen nicht betrügen. Da ist so jemand wie Leon die totale Ausnahme. Was soll ich mein Herz an jemanden hängen, der mir am Ende doch nur weh tut?«
Tja, denke ich und überlege. Ob ich wohl je wieder werde vertrauen können? Denn in der Tat, nach alldem, was ich von Nele gehört
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