Inselzauber
Eltern war, sondern in Hamburg eine alte Bekannte besucht hat. Und dass die Geschichte mit der Bürgschaft gar nicht stimmt.
»Weshalb hast du uns denn angelogen?«, frage ich verwirrt, weil ich angenommen habe, dass meine Freundin mir inzwischen vertraut.
»Ich weiß auch nicht«, schluchzt Nele weiter und hat mittlerweile ein ganz verquollenes Gesicht. Ich bin froh, dass die Straße um diese Uhrzeit leer ist und außer mir niemand Zeuge ihres Zusammenbruchs wird. »Ich wollte eben nicht zugeben, dass ich hier nichts mehr im Griff habe. Und ich wollte einfach mal weg. Weg vom Möwennest, weg von der Insel. Einfach abhauen. Da ich für Mexiko nicht genug Geld hatte, bin ich eben nach Hamburg gefahren.«
»Woher hattest du denn plötzlich das Geld, um deine Miete zu zahlen? Das stammt sicher auch nicht von deinen Eltern?«, kombiniere ich und bin gespannt auf ihre Erklärung.
»Das Geld hat Gregor mir gegeben«, flüstert Nele.
Für einen Augenblick glaube ich, mich verhört zu haben. »Gregor?«, frage ich ungläubig. » DER Gregor, dein Professor?«
»Ja, genau der. Wir haben uns getroffen, und ich habe ihm von meinen Schwierigkeiten erzählt. Da fühlte er sich mitverantwortlich, weil ich damals seinetwegen nach Sylt gegangen bin und mein Studium abgebrochen habe. Gregor verdient sehr gut, also habe ich das Geld angenommen.«
Für einen Moment verschlägt es mir fast die Sprache. Nele hat sich quasi verspätet dafür bezahlen lassen, dass sie das Feld für das familiäre Glück von Gregor Thade geräumt hat. Momentan habe ich keine Ahnung, wie ich das Ganze werten soll, allerdings geht es im Augenblick nicht um Moral, sondern darum, dass meine Freundin wieder mal knietief im Mist steckt und ich ihr gern helfen möchte. Und das möglichst bis Ende Mai, bevor ihre gesamte wirtschaftliche Existenz ruiniert ist. Jetzt, wo sie mir nicht mehr vorspielen muss, dass sie alles im Griff hat, redet Nele sich den ganzen Kummer von der Seele. Sie erzählt, wie sehr es sie belastet, das Café alleine zu führen, dass sie viel zu wenig Zeit für sich und ihre Malerei hat, dass sie gern häufiger Aufträge wie die Illustration des Kinderbuches annehmen möchte, dass sie sich einsam fühlt und dass sie manchmal das Gefühl hat, ihrer Probleme nicht mehr Herr zu werden. Wie sehr sie sich einen Mann an ihrer Seite wünscht, an den sie sich anlehnen kann, anstatt immer nur die unkomplizierte Geliebte zu mimen und letztlich niemanden zu haben, auf den sie zählen kann, wenn die Dinge mal nicht so gut laufen.
»Du hast doch mich«, protestiere ich, während ich Nele die verschmierte Wimperntusche aus dem Gesicht wische. »Und du hast Leon und Bea. Das weißt du doch«, versuche ich meine Freundin ein bisschen zu trösten, die allerdings nicht sehr überzeugt wirkt. »Wie du siehst, hat auch Gregor dir in einer Notsituation beigestanden. Ich bin mir sicher, dass deine Eltern dir ebenfalls helfen würden, wenn sie wüssten, welche Schwierigkeiten du hast.«
Wie zur Bekräftigung springt Blairwitch auf Neles Schoß und schleckt ihr mit der rauhen Katzenzunge übers Gesicht – für eine Katze ein äußerst untypisches Verhalten. Es sieht ganz danach aus, als wolle auch das Tier Nele zeigen, wie sehr es sie mag.
»Siehst du, auch Blairwitch ist meiner Meinung«, sage ich und entlocke Nele endlich ein Lächeln. Auf einmal habe ich eine Idee! »Ich muss mal kurz telefonieren«, rufe ich und gehe ins Café, um mein Handy zu holen. Als ich das Gespräch beendet habe, ziehe ich Nele von ihrem Stuhl hoch. »Komm, Süße, wir müssen los. Bea erwartet uns zum Abendessen!«
»Schön, dass ihr da seid«, begrüßt meine Tante uns eine halbe Stunde später, und wir nehmen am gedeckten Tisch Platz. Nele sieht immer noch furchtbar aus, was Bea jedoch diskret übergeht. »Es gibt Tagliatelle mit Spinat in Gorgonzolasauce«, ruft sie aus der Küche. »Ich hoffe, ihr mögt so was.«
Nele und ich nicken, während ich den Rotwein einschenke und den Salat verteile. Nach dem allgemeinen Geplänkel schildern Nele und ich abwechselnd die Situation, in der das Möwennest momentan steckt. Bea hört ruhig zu, stellt ab und zu eine kluge Frage, hält sich aber sonst mit Kommentaren jeder Art zurück. Wie immer bewundere ich sie für ihre Ruhe und Gelassenheit, wenn es gilt, Schwierigkeiten zu meistern.
»Was habt ihr jetzt vor?«, fragt sie, nachdem wir geendet haben. An dieser Stelle beginnt mein Herz zu pochen, weil ich es kaum wage, den beiden eine
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