Inside Anonymous: Aus dem Innenleben des globalen Cyber-Aufstands (German Edition)
eine Million Passwörter zu stehlen, das schaffte man inzwischen mit nur sechs Leuten.
LulzSec hatte denselben Effekt, den die vollständige Offenlegung in den Neunzigern gehabt hatte: Sicherheitslücken, die von den Firmen nicht behoben wurden, gelangten an die Öffentlichkeit und konnten von Black Hats ausgenutzt werden, bis es den Firmen so peinlich wurde, dass sie den Fehler behoben.
Leute, die den Großteil ihrer Zeit auf Bildschirme starren und in die Welt von Browsern, IRC und neuen Webskripten eintauchen, hatten durch LulzSec wieder Lust auf Störaktionen im Web bekommen. Man musste nicht mehr warten, bis ein Raid Hunderte von Unterstützern auf /b/ gefunden hatte, weil er interessant oder lustig genug war, oder bis ein Vorfall wie WikiLeaks Tausende von Teilnehmern in einen Cyberaufstand trieb. Man brauchte nur noch eine Handvoll talentierter und motivierter Leute mit ein paar guten Verbindungen zur Hackerszene. LulzSec hatte Anonymous wieder daran erinnert, dass eine kleine Gruppe für eine Menge Wirbel sorgen konnte. Es mussten nicht immer riesige Ressourcen und Verbindungen zur Presse dahinterstehen. Manche Journalisten kontaktierten Topiary täglich über Twitter, aber er hatte nur eine Handvoll Interviews im Namen von LulzSec gegeben. Er hatte auch keine Spezialsoftware eingesetzt, nur frei verfügbare Webtools wie Twitter und Pastebin sowie Notepad für alles Schriftliche. Die Webseite der Gruppe hatte ein einfaches Retrodesign, das auf der Designvorlage der Webseite von HBGary Federal basierte.
Das Grundprinzip von Anonymous gibt es schon seit Tausenden von Jahren. Topiary stellte sich vor, wie in grauer Vorzeit ein paar Höhlenmenschen mitten in der Nacht die Höhle eines Rivalen mit Büffelblut beschmiert hatten und dann kichernd weggerannt waren. Der Aufstieg des Internets und anonymer Imageboards hatte dazu geführt, dass statt einer Handvoll Menschen zunächst Dutzende und dann Tausende reagierten, nachdachten und in kürzester Zeit zum kollektiven Denkprozess beitrugen. Anonymous war zu einem kollektiven Geisteszustand geworden, einem Zufluchtsort, an dem sich der Geist von der eigenen Identität und der damit verbundenen Verantwortung oder der Last von Schuld und Angst erholen konnte. Eine neue Welle der Kreativität entstand in Form von Memen und einer Bildersprache frei von den Zwängen gesellschaftlicher Konventionen. Wenn die geballte Gedankenkraft dieses Schwarms in Aktion umgesetzt wurde, entstand Energie, eine nicht beherrschbare Macht der Masse. Manchmal konnte sie gelenkt werden, aber meistens schien diese nebulöse Macht, wie Topiary sie nannte, einen eigenen Willen zu haben.
In den Splittergruppen fanden sich jene, die mehr Kontrolle und mehr Ruhm wollten. Einen Monat nach der Auflösung von LulzSec hatten bereits mehrere neue Hackergruppen ihre eigenen Projekte gestartet, oft im Namen von AntiSec und Internetaktivismus. Im Juli hackte eine Gruppe namens Script Kiddies den Twitterfeed von Fox News und verbreitete darüber die Nachricht, US-Präsident Barack Obama sei ermordet worden. Danach defaceten die Script Kiddies die Facebook-Seite des Pharmagiganten Pfizer und stahlen nach eigenen Angaben Daten von Walmart. Gruppen von den Philippinen, aus Kolumbien, Brasilien und Peru starteten Angriffe im Namen von AntiSec und veröffentlichten überwiegend Daten von Regierungs- oder Polizeibeamten. Weitere Gruppen folgten ihrem Beispiel. Ohne es bewusst zu wollen, waren Topiary, Sabu und Kayla zu Vorreitern eines neuen anarchischen Hacktivismus geworden.
Doch das war meist nicht zum Vorteil der Hacker. Sabu war zwar enttäuscht über das Ende von LulzSec, aber durch die Wiederbelebung von AntiSec informierten ihn immer noch Hacker und Script Kiddies über Sicherheitslücken, die er an das FBI weitergeben konnte. Er erwies sich schnell als wertvoller Informant. Wenige Tage nach der letzten Veröffentlichung von LulzSec diskutierten über sechshundert Teilnehmer im AntiSec-Chatroom von AnonOps über legale und illegale Formen des Protests gegen verschiedene Ziele. Sie betrachteten Sabu als ihren neuen Anführer, saugten jedes seiner Worte auf und versuchten, ihn mit Vorschlägen für neue Hacks zu beeindrucken. »Ich mache dasselbe wie vorher, nur etwas revolutionärer«, sagte Sabu in einem Interview am 1. Juli, wenige Tage nach seinem bitteren Abschied von den anderen LulzSec-Mitgliedern. »Für Topiary und Tflow ging es immer nur um ›Lulz‹. Die Zeiten sind vorbei. Ich habe
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