Inside Anonymous: Aus dem Innenleben des globalen Cyber-Aufstands (German Edition)
keine. Es schien fast so, als sei der DDoS-Angriff auf SOCA der letzte Tropfen gewesen, der das Fass zum Überlaufen und die Polizei dazu gebracht hatte, den Weg zu den Shetlandinseln auf sich zu nehmen.
Es gab keine Handschellen und keine Schusswaffen. Niemand schrie, sie führten nur ein höfliches Gespräch. Das alles machte die Begegnung zu einer komplett surrealen Erfahrung. Eine Beamtin von der Abteilung für Computerkriminalität der Metropolitan Police ging direkt zu Jakes Dell-Laptop und bediente das Touchpad. Sie verbot ihm, ihn anzufassen, noch bevor er sich auch nur gerührt hatte.
Trotz allem, was geschehen war, hatte Jake die Daten auf seinem Laptop noch nicht gelöscht, wie er es geplant hatte. Die belastenden Dokumente, Notizen und Datenbanken waren alle noch drauf, wenn auch auf einer passwortgeschützten Partition. Aber das war für die Polizei kein Problem. Sie fragten Jake einfach nach seinem Passwort, und er gab es ihnen. Die Polizistin wollte auf die Partition zugreifen, fand sie aber nicht. Sie winkte Jake zu sich herüber und erlaubte ihm eine letzte Interaktion mit seinem Computer: ein Mausklick, um die versteckte Partition für die Polizistin zu öffnen. Auf dem Laptop liefen vierzig Programme gleichzeitig. Barr hatte sich selbst dafür verflucht, dass er dasselbe Passwort mehrmals benutzt hatte. Jake bereute nun insgeheim, dass er Kaylas Rat und seinem eigenen Bauchgefühl nicht gefolgt war und alles gelöscht hatte.
Die Polizisten gingen mit kühler Sachlichkeit vor. Jake sollte erst einmal mit vier Beamten mitgehen, während die beiden anderen in seiner Wohnung blieben, um den Laptop herunterzufahren und das Haus nach weiteren Beweisen zu durchsuchen. Er hatte nicht einmal Zeit, um eine Tasche zu packen, ein Buch einzustecken oder seine Mutter anzurufen. Er durfte nur Kleider zum Wechseln für zwei Tage mitnehmen. Sie öffneten die Haustür und führten ihn die Treppe hinunter direkt zum Auto. Falls seine Junkie-Nachbarn sie beobachteten, dachten sie wahrscheinlich, ihr junger, ungeselliger Nachbar wolle mit ein paar Freunden der Familie in die Stadt fahren. Keiner hätte vermutet, dass er als Anführer einer international berüchtigten Cybergang verhaftet wurde.
Zur selben Zeit stand Jakes Mutter Jennifer mehrere Hundert Meilen weiter südlich in der nordenglischen Stadt Spalding auf der Straße und schwatzte mit den Nachbarn von gegenüber. Ein Polizist erschien an der Tür der Nachbarn und forderte Jennifer auf, ihn zu ihrem Haus zu begleiten. Sie folgte ihm verwirrt und öffnete ihre Haustür. In der Wohnung wimmelte es von Ermittlern der Abteilung für Computerkriminalität und anderen Polizeibeamten, die den Besitz der Familie durchsuchten und ihren anderen Sohn befragten, den siebzehnjährigen Josh. Sie nahmen die komplette Computerausrüstung der Familie mit.
In Shetland raste das Charterflugzeug, das die Ermittler in den Norden gebracht hatte, über die Startbahn und hob ab in Richtung London. Jake dachte an die zu erwartenden Schlagzeilen. Bis zu jenem Zeitpunkt hatten die meisten Briten die Shetlandinseln nur als einen fernen Landstrich voller Schotten mit starkem Akzent wahrgenommen, die eine Vorliebe für Schafzucht hatten. Die bis dahin wichtigste Lokalmeldung hatte es erst in dieser Woche gegeben, wegen der Tall Ships’ Races 2011, einer Großsegler-Regatta in Jakes Heimatstadt. Ein Großteil der 7.000 Einwohner der Insel war dabei gewesen, als Dutzende riesige Segelschiffe mit jungen Menschen an Bord in der Bucht bei Lerwick anlegten. Auch Jake hatte für kurze Zeit sein Einsiedlerleben aufgegeben. Er war zum Hafen gegangen und hatte verwundert die Tausende von Menschen betrachtet, die zwischen Zelten, Imbissständen und Live-Musik hin und her eilten.
Die Landung des Flugzeugs brachte ihn schlagartig zurück in die Realität. Er hatte das letzte Mal mit Bus und Fähre achtzehn Stunden gebraucht, um nach Hause auf die Shetlands zu kommen, aber der Flug hatte nur fünfundvierzig Minuten gedauert. Eine weitere Stunde später hielt ein Auto vor der sauberen weißen Gipsfassade der Charing-Cross-Polizeiwache in der Innenstadt von London, und Jake wurde in eine winzige Arrestzelle geführt. Darin gab es ein Bett mit einer blauen Sportmatte und einer dünnen Decke sowie eine Toilette in der Ecke. Draußen war ein warmer Sommertag, aber in der Zelle war es kalt. Vom Flur her drang das Singen und Klopfen anderer Gefangener herein.
Irgendwann bekam Jake die Gelegenheit, mit
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