Inside Anonymous: Aus dem Innenleben des globalen Cyber-Aufstands (German Edition)
Bett gequält hatte, suchte er sich etwas zu essen und tappte an den Familiencomputer zurück. Wie immer öffnete er den Internetbrowser, und das /b/-Forum von 4chan erschien als Startseite. Er klickte sich durch einige Threads und stieß ein paar Stunden später auf das Foto eines Mädchens. Ihre grünen Augen und ein bezauberndes halbes Lächeln waren teilweise hinter schwarzem Haar verborgen. Das Bild war von oben aufgenommen worden, wie man es bei Selbstporträts von Teenagern oft sah. Der Erstposter wollte die /b/-Gemeinde dazu bringen, das Mädchen in eine peinliche Lage zu bringen. Die User sollten in ihren Photobucket-Account einbrechen, dort Nacktfotos herunterladen und sie an ihre Freunde und Familie senden. Der OP hatte ganz offensichtlich eine Rechnung mit dem Teenager zu begleichen. »Sie ist jedenfalls eine Schlampe«, behauptete er und fügte noch einen Link zu ihrem Facebook-Profil hinzu. William tat zwar dauernd Dinge dieser Art, aber in diesem Fall hatte der OP /b/ falsch eingeschätzt.
Die /b/-User wollten erstens mehr für ihren Einsatz sehen als bloß Nacktfotos, die ohnehin schon die meistverbreitete Ware auf 4chan waren. Zweitens, und das war wichtiger, durfte der OP nie glauben, /b/ stehe zu seiner Disposition. Schon nach wenigen Minuten hatte er mehrere Hundert Kommentare enthalten, die fast alle »NYPA« lauteten (»not your personal army«, wir sind nicht deine Privatarmee), dazu die eine oder andere Beleidigung.
William reagierte genauso, aber die Sache interessierte ihn doch. Er klickte wieder das Foto des Mädchens und sagte sich, dass er nichts zu verlieren hatte, wenn er die Nacht damit verbrachte, sich einen Spaß zu machen und eine gerechte Sache zu verfolgen. Inzwischen war es ein Uhr morgens am Samstag. Nachbarn wanderten aus den örtlichen Kneipen nach Hause, während William breitbeinig vor dem alten Rechner in der Küche hockte und sich hin und wieder mit der Hand durch die zerzausten Haare fuhr.
Er klickte auf den Facebook-Link und sah ein weiteres Foto des Mädchens; hier saß sie auf einer Ziegelmauer, trug bunte Legwarmers und blickte mürrisch in die Kamera. Sie hieß Jen und lebte in Tennessee.
William loggte sich mit einem seiner zwanzig fiktiven Profile auf Facebook ein. Fast alle diese erfundenen Profile waren die von Frauen. Als Frau konnte man auf Facebook viel leichter Freunde sammeln, und viele Freunde waren wichtig, um ein Profil echt wirken zu lassen. Sein wichtigstes fiktives Facebook-Profil hatte hundertdreißig echte Freunde. Um an diese zu kommen, suchte er sich einen Ort aus, zum Beispiel Chicago, und fragte bei Ansässigen an. Wenn die Kandidaten wissen wollten, wer »sie« sei, behauptete William, gerade erst neu zugezogen zu sein. Die meisten anderen fiktiven Accounts waren Schrott, in dem Sinne, dass fast alle anderen »Freunde« auf diesen Profilen selbst fiktive Profile anderer /b/-User waren. Man konnte solche »Freunde« auf /b/ selbst erhalten, wo immer mal wieder ein Thread »Braucht jemand gefakete Facebook-Freunde?« auftauchte. Die User schrieben einander dann mit ihren fiktiven Profilen gegenseitig an und hinterließen Nachrichten, um die Profile realistischer wirken zu lassen. William bekam die Porträts für seine fiktiven Accounts mitsamt angeblichen »Urlaubsfotos«, indem er ganze Ordner mit Bildern einer bestimmten Frau aus Online-Fotoseiten oder von 4chan selbst herunterlud oder indem er eine Frau überredete, ihm ihre Fotos zur Verfügung zu stellen. Solche sogenannten »Troll«-Accounts wurden von Facebook mitunter gelöscht, besonders, wenn sie durch alberne Usernamen wie I. P. Daily auffielen. (William büßte so etwa zwei Profile monatlich ein.) Wenn ein gefälschtes Profil sorgfältig genug gemacht war, konnte es jedoch Jahre überdauern. Um sich bei Jen zu melden, benutzte William einen realistischen Account mit echten Freunden, in dem er sich als Kaylie Harmon ausgab.
Zunächst machte er einen Screenshot des Posts auf 4chan mit dem Foto von Jen darauf. Dann schrieb er als Kaylie eine private Nachricht auf Facebook an Jen. Bei Facebook können alle User einander private Nachrichten schreiben, auch solche, die nicht als Freunde registriert sind. »Schau mal, was da jemand mit dir vorhat«, schrieb er und fügte den Screenshot als Anhang bei. Er unterzeichnete mit »Anonymous«, wie er es oft tat, um seinen Opfern Angst zu machen.
Jen schrieb fast sofort zurück. »O mein Gott. Wer bist du? Wie bist du an meine Facebook-Seite
Weitere Kostenlose Bücher