Inside Anonymous: Aus dem Innenleben des globalen Cyber-Aufstands (German Edition)
Überlaufen. Sie schrieb: »Ich weiß doch, dass du das bist, Raziel.« Indem sie Baileys gewöhnlichen Internet-Spitznamen »Raziel« verriet, hatte Emick eine wichtige Regel solcher Foren gebrochen: Die Online-Identität, den Spitznamen, geheim zu halten konnte genauso wichtig sein, wie den wirklichen Namen zu verbergen. Wütend löschte Bailey Emicks Administratorenstatus und brach den Kontakt zu ihr ab.
Im Rückblick meint Bailey, Emick habe schließlich erkannt, dass Anonymous keine friedliche Protestgruppe sei, sondern »voller Hacker und Leute, die aus Spaß böse Streiche spielen ... Daran ist sie verzweifelt«, fügt Bailey hinzu. »Sie hatte so viel von ihrem Stolz investiert.«
Emick findet es auch einige Jahre später immer noch schwierig, über die Gründe zu sprechen, warum sie sich von Anonymous getrennt hat. »Die Gruppe war dabei, sich aus den Augen zu verlieren ... Ich will es nicht so genau benennen«, meint sie. »2008 und 2009 gab es noch ein Gruppenethos. Man fügte sich ein, wurde Polizisten gegenüber nicht ausfallend, versuchte ein Vorbild zu sein. Wenn man eine böse Sekte bekämpft, kann man nicht selbst böse sein. Dann haben sie irgendwann gesagt: ›Warum eigentlich nicht?‹«
Emick schienen die Dramatik und der Klatsch zu gefallen, aber sie hasste die Drohungen und die Streiche, die ins reale Leben übergriffen. Was war mit dem Ethos des Wohlverhaltens der ersten Proteste geschehen? Anonymous wurde immer boshafter, nicht nur gegenüber Scientology, sondern auch gegenüber anderen Anons, die nicht mit den Methoden der Gruppe übereinstimmten. Diese Boshaftigkeit war für Mitglieder wie Bailey, der über die Unterwelt von 4chan auf Anonymous gestoßen war, nichts Neues, aber für Emick war sie ein brutaler Verrat.
»Wir haben versucht, ihr zu erklären, dass Anonymous nicht nett und kein Freund ist«, meint Bailey. »Wir haben ihr gesagt, das sind keine guten Menschen. Sie spielen ihre Streiche aus Schadenfreude.« Schließlich wurde Emick selbst zur Zielscheibe. Je mehr sie andere Anons als verantwortungslose Störer beschimpfte, desto mehr Beleidigungen und Drohungen zog sie auf sich. Andere Nutzer fanden ihren tatsächlichen Namen und ihre Adresse heraus und stellten sie ins Netz, dazu auch noch die Daten ihres Ehemanns. Angehörige verschiedener Anonymous-Splittergruppen belästigten ihre Stieftochter. Es war die Rede davon, ihr Haus zu »SWATen« – also ein SWAT-Team, ein Überfallkommando des FBI, dorthin zu schicken, ein überraschend leicht auszuführender Telefonstreich. Emick musste mit ihrer Familie nach Michigan ziehen und ging nur noch von einem Tarnserver aus ins Netz, der ihre IP-Adresse verschleierte.
Ein Jahr später sollte Emick zurückkommen. Sie hatte inzwischen ihre Kenntnisse in sozialer Manipulation und im Doxen der Identität von Nutzern verbessert und half dabei, Anonymous fast zu vernichten.
Der Soldat Bailey war derweil von einer Gruppe Anonymous-Angehöriger fasziniert, zu der alle gehören wollten, die aber kaum jemand verstand: den Hackern. Er wusste, dass zu Beginn des Chanology-Projekts eine kleine Gruppe erfahrener Hacker sich die Sache angesehen hatte, aber dann wieder verschwunden war. Während Anonymous jetzt in einen chaotischen Bürgerkrieg zwischen Moralschwuchteln und Trollen abglitt, machte Bailey sich auf, die Hacker zu finden. Er wollte das können, was sie konnten: einen Gegner ausfindig machen, ein Botnet übernehmen, einen Server hacken. Es ärgerte ihn, dass er es nicht längst konnte. Zuerst stand ihm aber eine drastische Veränderung seiner Lebensumstände bevor, nachdem er 2009 seinen Abschied vom Militär nahm.
Schon seit seiner Kindheit hatte Bailey tief in sich gefühlt, dass er eigentlich eine Frau war. Obwohl er eine offene Beziehung mit seiner Frau führte und beide zu Swingerpartys gingen, hatte er diese spezielle Neigung immer unterdrückt. Kurz nachdem er aus der Armee ausgeschieden war, lernte Bailey dann im Netz eine Transgender-Frau kennen und fühlte sich sofort zu ihr hingezogen. Sie war schön und selbstbewusst, und Bailey begann zu glauben, dass es auch für ihn möglich sei. Am 26. Mai 2009 bestellte er sich im Internet eine Packung Pillen für die Hormonersatztherapie und begann, sie heimlich zu nehmen. Er war ziemlich aufgeregt, wollte aber erst abwarten, wie er sich damit fühlte, bevor er seine Familie einweihte. Doch der Effekt trat schneller ein als erwartet: Bereits nach einem Monat hatte er
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