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Inside Occupy

Inside Occupy

Titel: Inside Occupy Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Graeber
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Umstände. Die bislang beste Lösung besteht in der Ansicht, gewalttätige Revolutionen ließen sich dadurch vermeiden (und somit gewalttätige Mobs legitim unterdrücken), dass man »dem Volk« das Recht einräumt, Gesetze durch gewaltfreien bürgerlichen Ungehorsam infrage zu stellen. Wer immer den Mut aufbringt, die Rechtsordnung unter Berufung auf sein Gewissen in Frage zu stellen, wird damit »das Volk«. Liberale Verfassungsrechtler wie Bruce Ackerman erklären gern, dass die für die USA – und vermutlich auch für die meisten anderen liberalen Demokratien – historisch typische Form des Zustandekommens einer Verfassungsänderung eben die einer gesellschaftlichen Bewegung mit der Bereitschaft ist, den Rechtsbruch in Kauf zu nehmen. Oder, um es etwas anarchistischer zu formulieren: Kein Staat hat je den von ihm Regierten freiwillig eineneue Freiheit gewährt. Freiheiten, die man bekommen hat, wurden immer von Leuten ertrotzt, die nach Prinzipien operierten, die über Gesetz und Respekt für rechtmäßig eingesetzte Autoritäten hinausgingen.

    Von dieser Warte aus lässt sich allmählich verstehen, warum die Strategie der Besetzung sich unerwartet als kollektiver Geniestreich erwiesen hat. Es war eine Trotzhandlung, mit der sich von den Liberalen bis zu den Anarchisten jeder identifizieren konnte. Dazu kam ein bedeutsamer Un terschied zu den Tagen des Global Justice Movement: Zwar ging es – wie seinerzeit bei den großen Protesten in Seattle, Prag, Washington und Quebec – auch diesmal darum, einem pseudodemokratischen Machtsystem ein Bild wirklicher Demokratie gegenüberzustellen, nur waren es keine Partys mehr. Als solche nämlich verstanden sich die Mobilisierungen von 1999 bis 2001 im Wesentlichen, als »Karnevals gegen den Kapitalismus«, »Festivals des Widerstands« mit ihren dramatischen Auftritten des Schwarzen Blocks. Entsprechend erinnern wir uns an diese Ereignisse, wenn überhaupt, mehr ihrer riesigen Puppen wegen, der Clowns und Blaskapellen, der heidnischen Priesterinnen, der radikalen Cheerleader und der »rosa Blocks« in Ballettröckchen, die die Polizisten mit Staubwedeln kitzelten – mit einem Wort: wegen der operettenhaften römischen Heerschaaren, die in aufblasbaren Rüstungen durch Barrikaden stolperten. Ihr Ziel war es gewesen, die Ansprüche der Elite, nur sie verkörpere die nüchterne Weisheit, zum Gespött zu machen, den Bann des Konsumismus zu brechen und einen Blick auf eine verlockendere Zukunft zu gewähren. Im Vergleich zur gegenwärtigen Mobilisierungsrunde ging es damals also sowohl militanter als auch schrulliger zu. OWS ist dagegen keine Party, es ist eine Gemeinschaft. Und es geht weniger, wenigstens nicht primär, um Spaß als um soziales Engagement.
    Rasch sorgte jedes Camp für die wesentlichen Einrichtungen. Ab einer gewissen Größe gab es eine Küche, eine Bibliothek, medizinische Versorgung, ein Medien- und Kommunikationszentrum, in dem Aktivisten über ihren Laptops beisammensaßen, sowie ein Informationszentrum für Besucher und Neuankömmlinge. Vollversammlungen fanden zu festen Zeiten statt, etwa um 15 Uhr für eine allgemeine Diskussion und um 21 Uhr zur Besprechung lagerspezifischer technischer Details. Darüber hinaus trafen sich dauernd Arbeitsgruppen aller Art: die Gruppe für Kunst und Unterhaltung, die Sanitärgruppe, die Sicherheitsgruppe etc. Die Probleme, die sich bei der Organisation auftaten, waren von so endloser Komplexität, dass man allein über dieses Thema Bücher schreiben könnte (was irgendwer vermutlich irgendwann auch mal machen wird).
    Es ist jedoch bezeichnend, dass zwei Einrichtungen in der Regel das Zentrum aller Aktivitäten bildeten: die Küche und die Bibliothek. DieKüchen fanden besonders viel Aufmerksamkeit. Wofür nicht zuletzt die ägyptischen Gewerkschaften verantwortlich waren. Diese nämlich hatten ihren amerikanischen Genossen unter den Aktivisten bei der Besetzung des Kapitols in Madison, Wisconsin 11 , einige Monate zuvor Pizzas zukommen lassen. Jetzt griffen Hunderte von Leuten in ganz Nordamerika und darüber hinaus zu Kreditkarte und Telefon, um uns, den OWS-Besetzern, Pizzas zu bestellen. (In der dritten Woche hatte eine Pizzeria vor Ort bereits eine spezielle Pizza mit dem Namen »Occu-Pie« für uns kreiert; sie bestand angeblich aus 99 Prozent Käse und einem Prozent Schwein.) Ein Gutteil der Nahrungsmittel kam durch »Containern« zusammen; angeboten wurden sie im Camp für umsonst. Die Bibliotheken jedoch,

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