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Inside Occupy

Inside Occupy

Titel: Inside Occupy Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Graeber
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politischer Betätigung garantieren. Die Formulierung des Ersten Zusatzartikels ist ziemlich eindeutig: »Der Kongress darf kein Gesetz erlassen, das … die Rede- oder Pressefreiheit oder das Recht des Volkes einschränkt, sich friedlich zu versammeln und die Regierung um die Beseitigung von Missständen zu ersuchen.« Nun aber die Polizei um Erlaubnis fragen zu müssen, öffentlich reden zu dürfen, eigene Flugblätter veröffentlichen zu dürfen, sich auf der Straße versammeln zu dürfen – das sind Auflagen, die sich doch wohl schwerlich als mit diesem Grundsatz vereinbar bezeichnen lassen. Und die ersten hundert Jahre der amerikanischen Geschichte hindurch hat man sich auch erst gar nicht an solchen Gesetzeseinschränkungen versucht. Man hielt derlei ganz offensichtlich für verfassungswidrig – bis etwa um 1880, ziemlich genau um die Zeit also, in der sich der moderne Konzernkapitalismus herauszubilden begann und man explizit eine Handhabe gegen die sich damals entwickelnde Arbeiterbewegung brauchte. Und das lag nicht etwa daran, dass die Richter ihre Ansichten über den Ersten Verfassungszusatz geändert hätten – er war ihnen nur einfach plötzlich egal. Zu weiteren Einschränkungen kam es in den 1980er und 90er Jahren; sie sollten gewährleisten, dass es nie wieder zu Mobilisierungsaufrufen gegen die Kriege kommen würde, wie es sie in den 60er und 70er Jahren gegen den Vietnamkrieg gegeben hatte.
    Falls es also überhaupt einen Rechtsanspruch gibt, mit dem ein Anarchist einverstanden sein kann, dann den auf einen Raum, in dem es sich selbstverwaltet politisch tätig sein lässt. Selbst meine alte Freundin Georgia Sagri, die Anarchistin schlechthin, war bereit, das beim ersten Brainstorming über eine hypothetische Liste von Forderungen zur Debatte zu stellen.
    Der Gedanke, einen öffentlichen Raum zu besetzen, war selbstverständlich nicht eben neu. Die unmittelbaren Vorbilder waren die Revolutionen im Mittelmeerraum, insbesondere der Tahrir-Platz in Kairo, der Syntagma-Platz in Athen, die Protestcamps der Indignados, der Bewegung 15. Mai, auf der Plaça de Catalunya in Barcelona und der Puerta del Sol in Madrid. Und der Besetzungsgedanke lag auch deshalb an, weil er eine strategische Verbindung zwischen Gruppen ermöglichte, die – wie etwa die Liberalen – in der Tradition des zivilen Ungehorsams auf eine Demokratisierung des Systems hinarbeiten, sowie Anarchisten und anderenAntiautoritären, denen es um die Schaffung von Räumen gänzlich außerhalb der Kontrolle des Systems geht. Man konnte sich darauf einigen, dass man damit auf eine moralische, sozusagen vorgesetzliche Ordnung zurückgriff.
    Das Merkwürdige an dieser moralischen Ordnung ist, dass ihre Existenz, bei aller Unklarheit über ihre eigentliche Beschaffenheit, sogar von der Rechtsordnung selbst mehr oder weniger vorausgesetzt wird. Wir begeben uns da in notorisch trübe Gewässer, stoßen auf eine fundamentale Inkohärenz, wie man sagen könnte, im Fundament des modernen Staats. Man bezeichnet sie zuweilen als »das Paradox der Souveränität«. Und es lässt sich im Prinzip etwa so formulieren: Die Polizei darf Gewalt einsetzen, um, sagen wir mal, Bürger aus einem öffentlichen Park zu entfernen, weil sie damit ordnungsgemäß in Kraft gesetztem Recht Geltung verschafft. Gesetze beziehen ihre Legitimität aus der Verfassung. Die Verfassung wiederum bezieht ihre Legitimität von einem so genannten »Volk«. Aber wie hat dieses Volk der Verfassung eigentlich diese Legitimität gewährt? Nun, die Amerikanische wie die Französische Revolution haben das klargemacht: im Grunde durch Akte illegaler Gewalt. (Immerhin hatten Washington und Jefferson sich im Sinne der Verfassung, unter der sie aufgewachsen waren, eindeutig des Landesverrats schuldig gemacht.) Was also gibt der Polizei das Recht, unter Einsatz von Gewalt eben das zu unterdrücken, was ihnen überhaupt erst das Recht zum Einsatz von Gewalt verliehen hat – sprich eine Erhebung des Volks?
    Für den Anarchisten ist die Antwort hierauf ganz einfach: nichts. Der Gedanke eines auf einem staatlichen Gewaltmonopol basierenden demokratischen Staats entbehrt für sie jeder Logik. Für Liberale ist das ein echtes Dilemma. Und zwar nicht nur ein praktisches (wie unterscheidet man in einer gegebenen Situation zwischen »dem Volk« und einem lediglich randalierenden Mob?), sondern auch ein moralisches. Der Liberale hat keinerlei Verständnis für einen randalierenden Mob, ungeachtet der

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