Inside Polizei
zu den ersten Todesfällen gekommen war. Nun hieß es schnellstmöglich zum Einsatzort zu gelangen. Hektik machte sich in der Hundertschaft breit, jeder sah zu, dass er zügig in seinem Gruppenfahrzeug saß, damit der Hundertschaftsführer nach der Vollzähligkeitsmeldung den Abmarschbefehl erteilen konnte. Niemand sprach mehr, die Anspannung stand allen in das Gesicht geschrieben. Das Durchschnittsalter der Beamten von Patricks Einheit lag um die 35 Jahre. Die meisten blickten auf eine ereignisreiche Laufbahn zurück und besaßen entsprechend Berufserfahrung. Und Leichen hatte schon jeder von ihnen gesehen. Aber doch spürten alle die Ungewissheit in sich aufsteigen. Was erwartete sie? Würden sie das alles hinbekommen? Hoffentlich waren die »Sanis« und die Ärzte schon da. Denn Polizisten erhalten zwar in unregelmäßigen Abständen Auffrischungen und Fortbildungen im Bereich lebensrettender Maßnahmen, aber eine Mund-zu-Mund-Beatmung oder eine Herzdruckmassage gehörte ausdrücklich nicht zu ihrer täglichen Arbeit. Ulrike war angespannt, ihr Mund war trocken, und ihr sonst gesunder Teint war einer fahlen Blässe gewichen. Trotz des ohrenbetäubenden Lärms der Martinshörner und des kräftigen Schaukelns des Wagens aufgrund der rasanten Fahrweise blieb Patrick Ulrikes Zustand nicht verborgen. Er beugte sich daher zu ihr und gab ihr einen kameradschaftlichen Klaps auf die Schulter zusammen mit einem aufmunternden Kopfnicken. »Du schaffst das schon!«
Doch Patricks optimistische Grundeinstellung sollte sich nicht bewahrheiten. Das, was sie nun erleben sollten, war nicht zu schaffen, die Bilder und Geschehnisse waren nicht zu verarbeiten, für niemanden! Denn der neue Befehl führte sie direkt in den Tunnel, den Tunnel, der zur Todesfalle geworden war, den Tunnel des Grauens.
Sie brauchten trotz Blaulicht und Sirene einige Zeit, um sich eine Gasse durch die Menschenmenge zu bahnen. In einer Seitenstraße ließ der Hundertschaftsführer anhalten und absitzen. Der Rest der Strecke zum neu zugewiesenen Einsatzraum wurde dann zu Fuß zurückgelegt, im Laufschritt.
Nun, nachdem sie sich durch die gestaute Masse gewühlt hatten, waren sie fast da, der Tunnel lag vor ihnen. Die ersten Kollegen kamen ins Schwitzen und pumpten mittels einer deutlich hörbaren Keuchatmung mehr Sauerstoff in ihre Lungen. Der Spurt in voller Einsatzmontur zehrte bei einigen Kollegen nach einer zwölf- oder dreizehnstündigen Schicht an der körperlichen Substanz.
Es herrschte Chaos. Polizisten aus unterschiedlichsten Einheiten halfen, Verletzte zu bergen, sperrten Zugangswege ab, und Sanitäter und Ärzte kämpften um das Leben von Schwerverletzten. Herzdruckmassagen wurden durchgeführt. Verzweifelte und traumatisierte Menschen irrten orientierungslos umher und suchten vermisste Angehörige. Andere Partygäste waren mit den Geschehnissen überfordert und verkrafteten diese Bilder nicht. Sie brachen emotional zusammen, sprachlos, weinten und waren am Ende ihrer Kräfte.
Der Tunnel wurde von kaltem Neonlicht beleuchtet. Die Luft war warm und stickig. Ein Luftwirbel fegte Sand, Dreck und Staub durch die Röhre und spielte mit weggeworfenem Verbands- und Erste-Hilfe-Material sowie Plastiktüten und unzähligen Getränkeflaschen. Es wirkte alles irreal. Die Bilder und Eindrücke schienen nur in Zeitlupe Ulrikes und Patricks Gehirn zu erreichen. Automatisch wurden sie langsamer, ihre Beine weigerten sich weiterzulaufen. Patrick erinnerte sich später, dass er sich wie ferngesteuert, wie in Trance vorkam. Der Tumult an der Treppe und im Tunnel hatte sich zwischenzeitlich aufgelöst. Die Menschenmasse war abgezogen und hatte schreckliche Verwüstungen zurückgelassen. Am Boden lagen Dutzende Menschen, bewusstlos, ohne eigene Atmung, tot. Die Bilder glichen denen aus einem Kriegsgebiet, von einem Terroranschlag.
Die Szenen, die Ulrike und Patrick jetzt miterlebten, darauf hatte sie niemand vorbereitet, weder in der Ausbildung noch bei späteren Übungsszenarien. Leichen, überall lagen Leichen. Tote Menschen, junge Menschen, Frauen und Männer. Die leblosen Körper lagen verteilt vor einer steilen Wand und einer schmalen Treppe. Zu viele Leiber, als das man abschätzen konnte, wie viele es waren. Die wachsende Fassungslosigkeit und das Grauen verhinderten jeden klaren Gedanken. Patrick erwachte kurz aus seiner Lethargie und schaute sich um, die meisten Kollegen waren außerstande weiterzugehen, ihre Beine gehorchten ihnen nicht mehr, und das
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