Inside Polizei
zusammengebrochen, bis Ulrike auf ihn aufmerksam geworden war.
Ulrike hörte sich seine völlig teilnahmslos erzählte Geschichte an und streichelte ihm behutsam über den Hinterkopf. Doch es gelang ihr nicht, ihn aus seiner Lethargie zu reißen. Sie sprach beruhigend auf ihn ein, meinte, er solle sich erholen und etwas ausruhen. Sie würde baldmöglichst wieder nach ihm schauen. Dann ließ sie ihn in dem Polizeiwagen zurück. Die Einlösung ihres Versprechens dauerte lange, denn eine Menge Arbeit stürzte auf die Polizisten ein. Ulrike hoffte, dass Heiko nur etwas Ruhe brauchte, um sich von dem Erlebten zu erholen. Ein Trugschluss. Heiko musste vier Wochen nach der Loveparade therapeutische Hilfe zur Verarbeitung dieser Katastrophe in Anspruch nehmen. Ihn plagten Panikattacken und Angst vor Menschenmassen. Es dauerte einige Monate, aber die Therapie half Heiko bei der Verarbeitung des Erlebten, und mittlerweile versieht er seinen Dienst wieder im vollen Rahmen.
Keine 100 Meter entfernt von den Toten feierten die Leute nach wie vor weiter, der Krisenstab hatte entschieden, dass die Parade nicht abgebrochen werden sollte, um weitere Massenbewegungen und Paniken zu verhindern. Die Entscheidung war wohl alternativlos, wie Politiker formulieren würden.
Patricks und Ulrikes Hundertschaft sperrte ihren Bereich ab und leitete die Massen weiter. Nicht alle Raver hatten bereits von den Toten gehört, daher beschimpften und beleidigten einige die eingesetzten Polizisten wegen der zusätzlichen Absperrmaßnahmen. Diese Schmähungen und Pöbeleien brauchte nun wirklich keiner der eingesetzten Polizisten, aber es half nichts. Es war, wie es war.
Die Partygäste reagierten entsetzt, als ihnen über Polizeimikrofone erklärt wurde, dass die Anfahrtsstraße zum Partygelände geräumt wurde, um Platz zu schaffen für Polizei- und Rettungswagen. Des Weiteren ertönte für sie eine weitere unglaubliche Durchsage: Das Loveparade-Gelände wurde für neue Besucher wegen Überfüllung geschlossen. Niemand wurde mehr in die Nähe des Veranstaltungsbereiches gelassen. Geschlossen, kaum drei Stunden nach der offiziellen Eröffnung geschlossen. Spätestens da erkannte jeder, wie es um die Praxistauglichkeit des sogenannten Sicherheitskonzepts der Veranstalter bestellt war. Es hatte versagt.
Immer mehr Rettungskräfte strömten zum Unglücksort und transportierten Verletzte ab, die Toten blieben liegen. Die behördlichen Notmaschinerien wurden in Gang gesetzt und starteten ihre Arbeit gegen das Chaos. Rettungskräfte und Notärzte wurden NRW-weit alarmiert. Alles, was fahren konnte, ereilte die gleiche Anweisung: auf zur Loveparade Duisburg. Die bereits eingesetzten Sanitäter und Ärzte waren mit der Vielzahl von verletzten und traumatisierten Menschen überfordert. Ihre Arbeitsweise richtete sich ab sofort nach militärischem Standard, der Triage. Der französische Sanitätsdienst prägte den Begriff der Triage, der ins Deutsche am zutreffendsten mit Sichtung und Einteilung übersetzt werden kann. Die Triage umfasst die ethisch schwierige Aufgabe, dass wenige Ärzte und Sanitäter im Kriegsfall oder bei einer Katastrophe entscheiden müssen, wer von den unzähligen Verletzten zuerst oder wer überhaupt behandelt werden soll. Das Ziel besteht darin, möglichst viele Menschen zu behandeln und zu retten. Doch gleichzeitig bedeutet dieses Vorgehen, dass Einzelne vernachlässigt oder gar nicht versorgt werden, da ihre Behandlung zu viele personelle und medizinische Ressourcen binden würde. Das Kollektiv steht im Vordergrund. Die folgenreichen Entscheidungen der Mediziner gleichen im schlimmsten Fall einem Todesurteil für die Betroffenen.
An der einen Wand des Tunnels entstanden Notlazarette, während auf der anderen Seite auf einem schmalen, mit Flatterband abgesperrten Weg die Raver aus dem Tunnel herausgeführt wurden. Sanitäter und Ärzte kämpften gegen reanimationsbedürftige und traumatisierte Jugendliche an. Sie versorgten Knochenbrüche, Quetschungen und unterschiedlichste Schädigungen der Halswirbelsäule. Es gelang ihnen, über 300 Verletzte im Tunnel notfallmedizinisch zu versorgen.
Der Bereich vor der Treppe wurde zum Tatort erklärt. Die Kriminalpolizei, genauer gesagt die Tatortaufnahme, war ebenfalls in Marsch gesetzt worden. Alle verfügbaren Tatortwagen mit Spezialausrüstung zur Spurensuche und -sicherung wurden NRW-weit alarmiert. Jedes anreisende Team bekam eine Leiche zugeteilt und sicherte Indizien und Beweise,
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