Inside Polizei
werden – am Anfang mittels einfacher körperlicher Gewalt. Sollte diese Maßnahme nicht ausreichen, eskaliert die Spirale der polizeilichen Handlungsweise. Dem Zurückdrängen folgt die Verwendung von Pfefferspray, sollte die Situation sich weiter zuspitzen, schließt sich die Freigabe der Einsatzleitung für einen Schlagstockeinsatz an. Der Kampf Mann gegen Mann. Bei einer weiteren Zuspitzung stehen Wasserwerfer, Reiterstaffel und abgerichtete Diensthunde in Bereitschaft. Man stelle sich einen solchen Polizeieinsatz aber gegen junge Menschen auf der Loveparade vor – undenkbar. Und trotzdem setzten die Veranstalter und die Polizeiführung auf zahlreiche Absperrungen als tragende Säule ihres Sicherheitskonzeptes. Sie unterließen es auch, in Vorbesprechungen und im Einsatzverlauf Polizisten auf die Wichtigkeit der angeordneten Sperren hinzuweisen, auf einen geradezu lebensentscheidenden Kausalzusammenhang zwischen dem Halten der Sperren und einem gefahrlosen Funktionieren des engen Eingangsbereichs. Eine entsprechende Sensibilisierung der Polizeikräfte blieb nach Ulrikes und Patricks Erinnerungen komplett aus.
Der Veranstalter hätte außerdem dem erwarteten Frust der gestauten Massen entgegenwirken können, indem er größere Absperrpunkte mit Musikbeschallung, Getränkestationen und Toiletten zu Party-warte-Stationen umgestaltet hätte. (Die im Sicherheitskonzept geforderte und zugesicherte Lautsprecheranlage fehlte am Veranstaltungstag komplett.) Vielleicht hätten sich dann die Straßen Duisburgs in Tanzflächen verwandelt und nicht in eine Leichenhalle. Aber zusätzliches Geld schien dieser Versuch weder der Stadt Duisburg noch den Loveparade-Machern wert zu sein. Möglicherweise ein weiteres tödliches Versäumnis.
Der Tunnel war mittlerweile wegen Überfüllung geschlossen, dies war den Ravern in der Stadt aber nicht bekannt, und so strömten sie alle weiter Richtung Veranstaltungsgelände.
Die im Eingangs- und Tunnelbereich eingepferchten Raver erblickten eine schmale Treppe und versuchten auf dieser der beängstigenden Enge zu entkommen. Erste Schlägereien brachen aus, Menschen stürzten und wurden von der nachrückenden Menge totgetrampelt. Panik brach aus.
Die eingepferchten Leute sprachen später von dem ungeheuren Druck, der in diesem Bereich geherrscht hatte. Ein Augenzeuge berichtete später von einer Frau, deren Körper im Stehen dem immensen Druck nicht mehr standgehalten hatte. Sie war stehend gestorben, ohne genug Platz zu haben, um hinfallen zu können.
In diesem Chaos war fast jeder mit sich selbst beschäftigt und kämpfte gegen den Druck der Masse an, um einen Sturz auf den Boden unter allen Umständen zu verhindern.
Kurz nach 17.00 Uhr wurden die Rettungskräfte alarmiert. Die Einsatzleitung meldete sich über Funk bei der in Bereitschaft liegenden Hundertschaft von Patrick und Ulrike, und die dunklen Vorahnungen mancher Kollegen schienen sich zu bewahrheiten. Der erste Funkspruch, den die Einsatzführung versendete, sprach von einem Toten. Dies drückte auf die Stimmung der eingesetzten Polizisten, verwunderte sie aber auch nicht besonders. Tod war ein ständiger Begleiter ihres Berufes, etwa wenn sie mit Mordopfern, Unfallbeteiligten, Suiziden, Familiendramen oder einem unvorhergesehenen natürlichen Ableben wie beispielsweise einem plötzlichen Herztod zu tun hatten. Das Ende lauerte überall. So war es zwar tragisch, aber ein Toter unter Hunderttausenden Menschen in einem engen Ballungsgebiet überraschte sie nicht wirklich. Auch der Funkspruch ließ noch nichts von der nahenden Katastrophe erahnen. Er war sachlich, emotionslos und handelte immer nur von einem Toten.
Als vorläufige Todesursache wurde »totgetrampelt« angegeben. Totgetrampelt. Patrick und Ulrike sahen sich betrübt an und schauten in die Runde. Die Vorfreude auf den Feierabend war bei allen Kollegen schlagartig aus den Gesichtern verschwunden. Das Gerede verstummte. Was bedeutet dies jetzt für jeden Einzelnen von ihnen? Würde die Hundertschaft nach einem Todesfall neue Befehle erhalten? Und blieb der geplante Feierabend nach zwölf Stunden Dienst bestehen, oder ging es zurück in die Straßenschluchten Duisburgs?
Der nächste Funkspruch der Einsatzleitung beendete alle Hoffnungen auf einen reibungslosen Verlauf der Loveparade. Die Stimme aus dem Funksprechgerät sprach nun von einer Panik, mehreren Toten, verkündete die sofortige Alarmierung aller Reservekräfte und beorderte sie umgehend dorthin, wo es
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