Inside Polizei
nur 100 Meter Entfernung die Loveparade weiterlief.
Der Erste, der in Patricks Einheit seine Sprache wiederfand, war der Zugführer. Er forderte alle Kollegen auf, weiterzugehen und ihre angeordneten Absperrpositionen einzunehmen, um weitere Panik, Verletzte und Tote zu verhindern. Schweigend kamen die Polizisten diesem Befehl nach, irgendwie gelang es ihnen, einen Fuß vor den anderen zu setzen und sich wieder auf die andere Tunnelseite zuzubewegen. Sie funktionierten, trotz des Schocks, trotz der Bilder in ihren Köpfen. Langsam wurde Patrick bewusst, dass er seit dem Erreichen des Tunnels nicht mehr auf seine Kollegen geachtet hatte. Wie erging es den anderen, wie kam Ulrike klar? Er schaute sich um, direkt in ihr Gesicht. Ulrike schaute teilnahmslos durch ihn hindurch. Sie wirkte apathisch, genau so, wie er selbst wahrscheinlich auch aussah, dachte er. Sein Blick schweifte ab, die Einheit verließ den Tunnel und nahm ihre zugewiesenen Positionen ein. Teile der Hundertschaft zogen schwere Absperrgitter auf Straßen und Zugänge und ermöglichten so einen schnelleren Rettungseinsatz. Die Polizisten funktionierten wieder, erst mal, aber sie schwiegen noch immer. Das Grauen ließ sie verstummen.
Erst Tage später realisierte Patrick, wie lange er tatsächlich im Tunnel verweilt hatte. Die Flut der nicht zu verarbeitenden Bilder hatte sein Zeitgefühl beeinträchtigt. Er schätzte um die 20 Minuten, einzelne Kollegen sprachen von bis zu einer halben Stunde. Tatsächlich blieb Patricks Einheit nur zwei, höchstens drei Minuten unmittelbar vor den Leichen.
Dem Großteil der Polizisten gelang es, die neu erhaltenen Aufträge abzuarbeiten. Eine persönliche, innere Aufarbeitung des Geschehenen verschoben sie auf später. Andere beneidenswerte Kollegen schienen offenbar in der Lage zu sein, per Knopfdruck die Bilder aus ihren Köpfen zu verbannen. Aber nicht bei allen Kollegen klappte diese Verdrängung, Ulrike kümmerte sich inzwischen um Heiko. Er war ein Totalausfall. Ulrike organisierte für ihn einen Sitzplatz in einem Gruppenwagen einer fremden Einheit und sprach beruhigend auf ihn ein. Erst einige Zeit später erzählte er ihr, was ihm so zu schaffen machte. Heiko berichtete die Geschichte apathisch, ohne Ulrike auch nur einmal in die Augen blicken zu können. Als sie im Tunnel waren, hatte Heiko eine sichtlich traumatisierte Frau angesprochen. Sie hatte heulend auf dem Boden gesessen, an der Tunnelwand gelehnt und das dringende Bedürfnis verspürt, jemandem ihre Geschichte zu erzählen. Einmal das Unbegreifliche aussprechen und ihre Schuldgefühle abladen. Es hatte Heiko völlig unvorbereitet getroffen, da er selbst seit einer Minute schwer mit den schrecklichen Bildern zu kämpfen hatte und gerade dabei war, diesen Kampf zu verlieren. Die Überlebende hatte Heiko geschildert, wie sie von dem Druck der Menge nach unten gepresst worden und dort auf eine bereits liegende Frau gefallen war. Bevor es ihr gelungen war, sich wieder aufzurichten, waren schon mehrere Füße auf ihren Körper getrampelt. Unmittelbar danach war eine weitere Frau auf sie gestürzt und ebenfalls von der Menschenmasse überlaufen worden. Unter Tränen hatte die knapp 30-jährige Frau erzählt, wie sie zuerst mit der unter sich verschütteten Frau Kontakt gehalten hatte und sie sich gegenseitig Mut zugesprochen hatten, als die Menschen auf ihnen gestanden hatten, über sie hinweggetrampelt waren und ihnen immer schwerere Verletzungen zugefügt hatten. Nach kurzer Zeit aber war die Frau unter ihr verstummt. Alles Flehen und alle Durchhalteparolen waren erfolglos gewesen. Die Frau war gestorben, während sie auf ihr gelegen hatte. Sie hatte nichts für sie tun können. Wie durch ein Wunder hatte sie selbst überlebt. Sie hatte geschrien, und in einem letzten Kraftakt hatte sie es geschafft, ihre Hand zu heben und auf eine nur wenige Meter entfernt liegende Leiche zu deuten. »Da liegt sie. Das ist sie!«
Die verzweifelte Überlebende war körperlich und seelisch völlig am Ende gewesen. Ein in der Nähe befindlicher Rettungssanitäter war wegen ihrer Schreie auf sie aufmerksam geworden, hatte Heiko beiseitegeschoben und mit ihrer Betreuung begonnen. Um Heiko hatte sich niemand gekümmert, er hatte zu funktionieren, aber er funktionierte nicht mehr. Er war seinen Kollegen zwar wie in Trance zum neuen Einsatzraum gefolgt, aber zu mehr war er nicht mehr in der Lage gewesen. Er war an einen Zaun gelehnt stehen geblieben und innerlich
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