Inside WikiLeaks
Überall auf der Welt wird der IT -Branche zur Last gelegt, sie beschwöre zwischenmenschliche Probleme herauf, weil sie die Menschen immer weiter voneinander entfernte: Videokonferenzen und E-Mail-Besprechungen lösten Gespräche von Angesicht zu Angesicht ab, und die Menschen kämpften mit Distanzgefühlen und Missverständnissen, die sie Face-to-Face ganz einfach auflösen könnten. Bei uns war genau das Gegenteil der Fall. Dieser erste, wirklich folgenschwere Clash wäre wahrscheinlich nicht passiert, wenn wir uns nicht gemeinsam in dieses isländische Hotel eingemietet hätten, oder wenn zumindest jeder ein eigenes Zimmer gehabt hätte.
An einem Mittwochabend in der dritten Woche eskalierte die Stimmung zum ersten Mal. Der Grund war – ein geöffnetes Fenster. Ich war unterwegs gewesen und kam zurück in das Apartment, in dem alle anderen eifrig tippend über ihren Rechnern hockten: Rop und Julian sowie Herbert und Smari. Ein Sarg – nach zehn Jahren das erste Mal geöffnet – hätte vermutlich frischer gerochen als dieses Zimmer.
Ich hielt mir die Nase zu, ging zu dem französischen Balkon auf der anderen Seite des Raumes, öffnete die Tür und ließ ein wenig Sauerstoff hereinströmen. Herbert blickte mich dankbar an, er war zwischendurch sogar schon einmal auf den Flur geflüchtet, weil er es nicht mehr ausgehalten hatte. Julian jedoch erstarrte über seinem Rechner, hob den Kopf und fragte, was mir einfiele, einfach das Fenster aufzumachen. Seine Augen warfen Blitze in meine Richtung. »Rop wird doch kalt, du Spinner!«, sagte er in schneidendem Ton.
Keine Ahnung, warum er jetzt Rops Papi spielen musste, vermutlich war ihm selbst kalt. Alle guckten mich und Julian erschrocken an. Rop hatte tatsächlich gesagt, dass es etwas frisch sei. Aber ich wollte das Fenster ja auch nicht die ganze Nacht offen lassen. Das sagte ich auch. Julian erwiderte nichts, sondern guckte mich nur an. Er ließ keinen Zweifel daran, dass er darauf wartete, dass ich etwas tat. Ich ging zurück, zog die Balkontür wieder zu, vielleicht ein ganz wenig lauter als nötig, und verließ den Raum. An dem Abend war deutlich geworden, wie leicht die Stimmung kippen konnte.
Ich kaufte mir Badehose und Taucherbrille und ließ mir im Schwimmbad das warme Wasser in die Ohren laufen. Es war ein angenehmes Gefühl, die Außenwelt gedämpft wahrzunehmen, die Rufe der Kinder, das Glucksen des nachlaufenden Wassers, das schmatzende Geräusch von Badelatschen, die am Beckenrand näher kamen und sich wieder entfernten. In Island ging man selbst bei Minusgraden ins Freibad. Über die Heizkosten für den Pool musste sich niemand Gedanken machen. Auf der Vulkaninsel sprudelten die Quellen ganz von allein in angenehmer Badetemperatur aus der Erde. Wenn das dunkle Wasser in der Dämmerung über dem Becken dampfte und man rundherum auf schneebedeckte Hügel blickte – das hatte eine fast mystische Atmosphäre.
Um den Pool, in den Umkleidekabinen, den Duschen und selbst auf den Toiletten waren Warnschilder angebracht mit allen erdenklichen Hinweisen: »Nicht vom Beckenrand springen« – »Nicht mit vollem Magen schwimmen« – »Vorsicht, glatt« – »Bitte sauber halten« – »Vorher nackt duschen«. Manchmal kamen die anderen mit, Rop und Folkert zum Beispiel, und dann fingen wir an herumzuspinnen. Rop hatte die Idee, eine Kampagne zu starten, die Sicherheit für alles forderte. Man solle doch die ganze Welt mit Schildern zupflastern, auf jedes Detail einen Warnhinweis kleben, um die Politik mit dieser Aufgabe komplett zu überlasten und letztlich aus den Angeln zu hebeln. Das war eine besonders freundliche Form, die Anarchie einzuführen.
Wir hatten noch mehr tolle Ideen, zum Beispiel ein Schiff zu kaufen, am besten eines, das gleichzeitig Kabel auf dem Meeresgrund verlegte, um dann mit einem schwimmenden Büro die Welt zu bereisen. Oder Gelder für einen Reisebus zu besorgen, damit durch Europa zu tingeln und den ersten Bücherei-Bus für Geheimdokumente zu betreiben.
Ohne dass wir es bemerkt hatten, waren vier Wochen vergangen. Wir kamen mit IMMI nicht weiter, und es stand die Frage im Raum, was wir eigentlich gerade hier taten. Ich stellte diese Frage. Und machte mich damit unbeliebt.
»Was ist eigentlich mit WL ?«, wollte ich wissen. Unsere Arbeit hatte bereits einen Monat lang brachgelegen. Unsere Submission- Plattform lief mehr und mehr mit neuen Dokumenten voll, die alle gesichtet und für die Publikation vorbereitet werden
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