Inside WikiLeaks
immer mehr Fehler passierten und dass wir der immensen Verantwortung, die wir auf uns geladen hatten, nicht mehr gerecht wurden. Julian sagte dazu nur seinen neuen Lieblingssatz: »Do not challenge leadership in times of crisis.«
Das hatte eigentlich fast komisches Potenzial. Julian Assange, Chefenthüller und schärfster Militärkritiker auf globaler Friedensmission, hatte sich auch sprachlich an die Mächtigen angenähert, die er zu bekämpfen vorgab. Er fand immer mehr Gefallen an dieser extrem zackigen, seelenlosen Fachsprache unserer Dokumente mit ihren absurden Akronymen und Codes.
Seit längerem schon bezeichnete er alle möglichen Leute als »Assets« . In der Betriebswirtschaft ist damit das Inventar und beim Militär Teile der Truppe gemeint. Der Begriff war von Julian auch nicht nett gemeint. Es zeigte, dass unsere Leute für ihn bloß Kanonenfutter waren.
Als er mich später hinausschmeißen wollte, nannte er als Begründung: »Disloyality, Insubordination and Destabilization«: Das waren Begriffe aus dem Espionage Act von 1917. Diese Klauseln waren dem Eintritt der USA in den Ersten Weltkrieg gefolgt, es war Militärsprache für Verräter.
Kodierte Sprache ist nicht nur beim Militär üblich. Sie ist der Kern der meisten spezialisierten Umgebungen. Auch überarbeitete Gesetzestexte enthalten nur noch sogenanntes Gesetzesgestammel, genauso in der Betriebswirtschaft oder bei den Banken. Noch viel stärker kodiert als beim Militär war zum Beispiel der Ton bei Scientology, deren Handbücher voller Akronyme stecken.
Eine solche Sprache ist nicht nur perfekt geeignet, um Außenseitern Einblick zu verwehren oder zu erschweren, es gibt ganze Berufsgruppen, die beziehen ihre Existenzberechtigung daraus, sich in ihrem selbstreferentiellen System zurechtzufinden. Worum es eigentlich ging, konnte im Grunde banal sein, es klang nur wie hohe Wissenschaft. Kein Wunder, dass Julian das gefiel. Fachsprache gaukelte Bedeutsamkeit vor und suggerierte, dass der Sprecher schon wüsste, was er tat – aber bitte nicht danach gefragt werden wollte.
Das war übrigens noch so eine Erkenntnis, die ich meiner Arbeit bei WikiLeaks verdanke: Ganz gleich ob Militär, Geheimdienste oder Strategiekommissionen – sie kochten alle nur mit Wasser. Einige Papiere erschienen mir bei genauerer Durchsicht haarsträubend naiv. Wir veröffentlichten zum Beispiel ein CIA -Dokument der Red-Cell -Gruppe, das ist ein Thinktank des Geheimdienstes, der nach 9/11 gegründet worden war. Das Papier der Red-Cell -Gruppe gab Auskunft darüber, mit welchen PR-Strategien die Amerikaner versuchen sollten, der sinkenden Zustimmung der Deutschen und Franzosen zum Afghanistan-Krieg entgegenzuwirken.
Hans-Jürgen Kleinsteuber, Politikprofessor der Universität Hamburg, bezeichnete das Dokument in einem Radiointerview als »Pennäler-Papier«. Denn so bösartig die Strategie auch war, den Deutschen erzählen zu wollen, dass man in Afghanistan Wirtschaftsinteressen wahren wollte, und den Franzosen, dass man sich dort für die Rechte der Frauen einsetzte, so einfach gedacht war ein solcher Plan zugleich. Das hatten nun wirklich keine besonders gewieften Strategen ausgetüftelt, es klang in dem Tonfall der CIA höchst bedeutsam, hätte aber auch aus der Feder eines Oberstufenschülers stammen können.
Natürlich waren auch wir nicht frei von Selbstreferenzialität. WikiLeaks hieß WL und Julian J, im Chat war ich S für »Schmitt«, und andere aus dem Team bestanden auch nur noch aus einzelnen Buchstaben. Dabei etablierte sich eine eigentümliche Logik: Je wichtiger eine Person bei WL war, desto kürzer wurde ihr Nickname. Wenn man im WL -Chat auf eine Ein-Buchstaben-Existenz stieß, konnte man fast sicher sein, einen offiziellen Vertreter des Projekts vor sich zu haben.
Anklage in Schweden
Am 20. August 2010 erhob die schwedische Staatsanwaltschaft Anklage gegen Julian Assange wegen versuchter Vergewaltigung in zwei Fällen.
Ich war gerade mit meiner Frau und unserem Sohn im Urlaub. Zwei Wochen lang reisten wir durch Island, dieses Land, das aussieht wie ein verkehrt herum belichtetes Foto, weil die Erde an manchen Stellen schwarz und die zugefrorenen Fjorde schneeweiß sind. Wir tuckerten in unserem alten Leihwagen von einem Ort zum nächsten. So etwas Schönes hatte ich seit Jahren nicht mehr gemacht. Es gab tatsächlich Tage, an denen ich es schaffte, stundenlang weder an Julian noch an WL zu denken.
Doch ganz ohne WL ging es nicht. Mich zog es
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