Inside WikiLeaks
eine einstweilige Verfügung entgegennehmen. Zwar wurde diese später wieder aufgehoben, allerdings wäre die Publikation der NPD -Mails auf WL eine gute Gelegenheit gewesen, unsere Stärke gegenüber den klassischen Medien herauszustellen. Für einstweilige Verfügungen gab es ja bei WL nicht einmal einen Empfänger.
Als wir an einem Freitag wieder in Reykjavik ankamen und ich in den Chat ging, schien es ein Problem zu geben. Einer der Techies, der sich wie ich in den Urlaub verabschiedet hatte, war verschwunden. Wir vergewisserten uns regelmäßig, dass jeder bei seinen Terminen heil ankam, dass niemand an der Grenze aufgegriffen und festgehalten wurde oder gar verschwand. Er war nun seit neun Tagen abgetaucht, dabei hatte er sich ursprünglich nur für drei Tage abgemeldet. Wir waren in Sorge.
Meine Frau erzählte unserem Sohn jeden Abend, bevor wir auf unserer Rundreise in einem neuen Bett einschliefen, dass in Erfüllung ginge, was man in dieser Nacht träumte.
Ich weiß nicht, ob das bei dem zehnjährigen Jacob Eindruck hinterließ – bei mir tat es das. Als ich in der nächsten Nacht träumte, unser Bekannter sei von einem Abenteuertrip wieder heil nach Hause zurückgekehrt, wachte ich morgens in der Überzeugung auf, alles würde sich nun zum Guten wenden. Und tatsächlich: Ich ging in den Chat, und der Freund war wieder da. Ich dachte, jetzt wäre alles wieder gut. Zwanzig Minuten später entdeckte ich im Internet die Meldung, dass in Schweden gegen Julian ein Haftbefehl erlassen worden war. Er habe zwei Frauen vergewaltigt, hieß es.
Normalerweise gilt auch in Schweden, dass Menschen, die Gegenstand von Ermittlungen werden, vor der Presse geschützt sein sollten. Um Rufschädigung zu vermeiden, dürften die Medien nicht einmal das Alter einer verdächtigten Person erfahren und schon gar nicht deren Namen. Das schwedische Boulevard-Blatt Expressen, das wie der Verlag dieses Buches zur schwedischen Bonnier-Gruppe gehört, brach in diesem Fall alle Regeln. Es hat aus den staatsanwaltlichen Ermittlungen eine Story gemacht, mit seinem vollen Namen. Julian wurde davon ebenso überrascht wie wir. Die Polizei hatte sich noch nicht mal bei ihm gemeldet, da musste er es bereits in der Zeitung lesen. Das wünscht man keinem Menschen.
Seltsam war, dass ich das Gefühl hatte, Julian hätte mir zum ersten Mal seit Monaten wieder zugehört – wenn auch nur für kurze Zeit. Er brauchte meinen Rat. Und er wollte von allen hören, dass sie auf seiner Seite stünden. Auch wenn wir ihm später nahelegten, sich für eine Weile zurückzuziehen, versicherten wir ihm doch sofort, dass wir voll hinter ihm stünden und keinen Grund sähen, an seiner Version der Geschichte zu zweifeln.
Nach der Einsamkeit der isländischen Natur erwartete Anke, Jacob und mich das jährliche Kulturfestival der Hauptstadt. Es war Samstag, und alles war voller Menschen. Die Isländer hatten ihre Straßen mit Buden gepflastert, es gab Essen und Trinken und Musik, und auf den Hauptstraßen fand der jährliche Reykjavik-Marathon statt. Birgitta las vor dem alten Gefängnis aus eigenen Gedichten vor und sammelte Unterschriften gegen die Nutzung von Magma zur Energiegewinnung. Ich ließ Anke und Jacob bei den Ständen zurück und kämpfte mich vor zur Hallgrímskirkja. Das ist eine evangelische Kirche, die ein bisschen aussieht wie eine abflugbereite Ariane-Raumfähre. Dort war ich mit Ingi und Kristinn verabredet. Wir wollten uns über das aktuelle Problem austauschen.
Die beiden Isländer warteten bereits an der Leif-Eriksson-Statue auf mich. Kristinn schaute immer ein bisschen durch einen hindurch. Als hätte er in der Vergangenheit etwas sehr Schreckliches gesehen und daraufhin beschlossen, nicht mehr richtig hinzugucken. Ingi stand hinter ihm, die Hände vorm Körper verschränkt. Ingi trug meist Hosen und Westen im Military-Style – und dazu dann eine alte Herrenhandtasche.
Wir gingen ins Einar-Jónsson-Museum. Weil wir uns gar nicht für die Kunst darin interessierten, aber beim Reden trotzdem immer weitergingen, schlängelte sich unser Parcours regelrecht durch das Gebäude: Treppe hoch, auf der anderen Seite gleich wieder hinunter, um das Türkreuz auf der rechten Seite, in einer Acht noch mal durch den linken Raum und zurück in den ersten Stock. Durch eine Tür auf der Rückseite des Gebäudes erreichten wir den Skulpturengarten. Mögliche Verfolger hätten wir mit dieser Taktik vielleicht nicht abgehängt, aber zumindest
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