Inside WikiLeaks
gelernt?
Julian, der vor allem in Bezug auf seine eigene Sicherheit sehr paranoid war, ließ die Zügel auf einmal erstaunlich locker. Als er von der Panne erfuhr, schickte er Ingi und Kristinn zu ihm. Aber was half es, die Informationen waren in der Welt. Die Isländer ließen ihn eine Erklärung unterschreiben, dass man ihm die Dokumente unrechtmäßig entwendet hatte. Überhaupt seinen Namen mit diesen Dokumenten zu verknüpfen, war hochgefährlich.
Auch der 17-Jährige stellte ein zunehmendes Sicherheitsrisiko dar. Julian twitterte, dass der Junge mehrfach in Island von der Polizei aufgegriffen wurde. Uns gegenüber sagte er, dass ihn die Polizei zu WL befragt habe. Dass man ihm Überwachungsfotos vorgelegt habe, um ihn nach einzelnen Personen auszufragen. Julian twitterte das auch. Die Fakten ließen sich allerdings nicht überprüfen. Die isländische Polizei stritt ab, dass es sich so zugetragen hätte. Das Mysterium WL wurde mit Erzählungen über Festnahmen und Verfolgung jedenfalls tüchtig angeheizt.
Im Verlauf des Jahres 2010 reiste Julian immer häufiger mit Bodyguards. Was für eine Aufwertung seiner Person. Irgendwann habe ich gedacht, dass für ihn der größtmögliche Supergau gewesen wäre, wenn ich vor ihm verhaftet worden wäre. Vielleicht hat er sich deshalb so über das Klingelschild mit meinem richtigen Namen aufgeregt.
Unser Verhältnis wurde nicht besser, nachdem er mir im April gesagt hatte, wenn ich was verzockte und unsere Quellen in Gefahr brächte, würde er mich jagen und töten: »If you fuck up, i will hunt you down and kill you.« Er hat das in einer großen Stresssituation gesagt. Und manchmal sagte er Dinge zu mir, die klangen, als wären sie auf ihn selbst gemünzt. Bei anderer Gelegenheit hat er davon geredet, ich wäre ein Sicherheitsrisiko, weil ich »einem Verhör nicht standhalten« könne. Da fragte ich mich, in welchen Film Julian eigentlich mittlerweile abgedriftet war. Sah er vor seinem inneren Auge einen Polizisten, der mir die Daumenschrauben enger drehte, während ich ein seitenlanges Geständnis schrieb, das für Julian das Todesurteil bedeutete?
Julian hat mir einmal erzählt, dass er in regelmäßigen Abständen in die Wälder führe. In der totalen Einöde könne er ganz für sich sein und seine Akkus wieder aufladen. »Rekalibrierung« nannte er das. Dort spräche er mit niemandem und lebe einfach in den Tag hinein. Er hätte das seinen Schilderungen zufolge eigentlich alle paar Monate gebraucht, mindestens. Wenn ich an die vergangenen zwei Jahre denke, hatte er kaum einen einzigen Tag gehabt, um wenigstens einmal kurz in die Natur zu fahren oder durch einen Park zu spazieren.
Viele Leute, die ihn auf Konferenzen oder bei einem seiner Besuche getroffen hatten, sprachen mich an, wie schlecht Julian im Moment aussehe, was für einen kaputten Eindruck er gemacht habe. Ich verstand nicht, warum ein derartiger Zeitdruck nötig war. Etwas trieb ihn, ich konnte nicht genau sagen, was. 2010 würden wir einen fetten Release nach dem anderen veröffentlichen, als ob uns der Leibhaftige auf den Fersen wäre. Der Druck rührte vielleicht auch von dem neuen Material her, das in der Zwischenzeit bei uns eingegangen war.
Er hatte mir schon vorher angekündigt, dass jetzt nicht mehr so viel Zeit sei wie früher, um über jedes Detail zu sprechen. Dass wir jetzt zu groß geworden wären, dass die Sache zu ernst geworden sei, um es noch gemütlich angehen zu lassen. Vielleicht gefiel ihm auch, dass alles so krass, zerstörerisch und bedeutsam wie möglich war.
Ich sah die Sache genau umgekehrt. Gerade weil wir immer bekannter wurden und die Dokumente immer brisanter, mussten wir mit Bedacht vorgehen. Wir hätten die uns selbst verordnete Pause von Ende 2009 nutzen können, die internen Strukturen weiterzuentwickeln. Und uns eher mit kleineren Leaks befassen müssen, bis die Infrastruktur richtig solide gestanden hätte.
Ich fragte mich auch, ob Julian tatsächlich vor etwas Angst hatte. Ob ihn eine mir unbekannte Sorge trieb, ob ihm das neue Material tatsächlich zu heiß geworden war. Er sagte oft, wir müssten das Material loswerden. Er äußerte die Sorge, dass man uns dafür »plattmachen« werde . Auf der anderen Seite habe ich nie bemerkt, dass Julian überhaupt vor irgendetwas Angst gehabt hätte. Angst war eine Kategorie, die bei ihm schlicht nicht ausgeprägt war. Also gab es für ihn auch nicht viel zu überwinden.
Der Druck führte dazu, dass uns tatsächlich
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