Inside WikiLeaks
gut und entwickelten über die Zeit einen Riecher, was ein echtes Dokument war und was nicht. Es passierte uns kein Fehler, jedenfalls soweit ich weiß. Aber es hätte auch schiefgehen können.
Solange ich mich selbst damit beruhigen konnte, dass wir ja an einem besseren System arbeiteten und eben noch am Anfang stünden, war das in Ordnung. Aber nach fast drei Jahren konnte ich mir das selbst nicht mehr glauben. In den zurückliegenden Monaten hätten wir eigentlich die Möglichkeit gehabt, die eigenen Verbesserungsvorschläge mit mehr Elan voranzutreiben. Es war Geld da. Es gab ein paar zuverlässige Mitstreiter, mehr Ressourcen – und wir kümmerten uns trotzdem nicht ausreichend darum. Wir waren fahrlässig, und wir spielten mit dem Vertrauen unserer Quellen und dem Geld unserer Spender.
Früher hatte ich nur Julian, mit dem ich ernsthaft über diese ganzen Probleme reden konnte. Er wusste um die internen Schwächen ja mindestens genauso gut Bescheid wie ich. Die meisten Sorgen behielt ich aber für mich. Ich hatte keine Lust auf Konflikte.
Inzwischen hatte ich angefangen, mich mit dem Architekten und Birgitta darüber auszutauschen, auch mit Herbert und mit Harald Schumann, dem Journalisten vom Tagesspiegel . Der Chatroom, in dem wir mit wachsender Sorge debattierten, hatte übrigens einen sehr passenden Namen. Er hieß »Mission First«.
Es war schon seit einer ganzen Weile klar, dass WL sich in die falsche Richtung entwickelte und wir uns verändern mussten. Den technischen Umbau hatte der Architekt ja bereits eingeleitet. Je länger wir über die Probleme sprachen, desto klarer war geworden, dass es eines weitaus umfassenderen Umbaus bedurfte. Der Journalist Harald Schumann hatte uns in Island immer wieder gefragt, wer bei uns die Entscheidungen träfe. Er ließ nicht locker, setzte sich einfach auf einen der Plätze im Ministry of Ideas und wollte sich nicht abschütteln lassen. Wir wanden uns. Wir gingen ihm aus dem Weg, versuchten ihn auf andere Themenfelder zu locken. Denn das war in der Tat unser Problem.
Wir hatten versucht, kritische Fragen durch Prinzipien aus der Welt zu räumen: So wollten wir beispielsweise einfach alles Material veröffentlichen, in der Reihenfolge seines Eingangs, und verpflichteten uns so selbst zu Neutralität. Es gab nur ein Problem: Wir konnten diesem Prinzip spätestens seit Ende 2009 nicht mehr gerecht werden, weil wir fast untergingen in Einreichungen und zwangsläufig auswählen mussten.
Ein weiteres Problem: Wir wollten eigentlich im Sinne der Gewaltenteilung eine neutrale Submission -Plattform bieten, also die reine Technik. Und nicht als politischer Agitator und mit einem Twitter-Account als Propaganda-Kanal auftreten.
Und schließlich wählten wir uns Kooperationspartner in den Medien und brachten uns dadurch in neue Abhängigkeiten. Obwohl diese Zusammenarbeit zuerst nur als Test gedacht war, blieben wir dem Modell treu. Wir genossen die Aufmerksamkeit, die uns die Medien einbrachten, und rechtfertigten die neue Linie damit, dass auch das Material, die Inhalte selbst davon profitieren würden, wenn sie besser sichtbar wären.
Keine Einzelentscheidungen zu Dokumenten und Veröffentlichungen zu fällen hätte außerdem grundsätzlich den Vorteil gehabt, dass im Zweifel niemand verantwortlich gemacht werden konnte, sollte etwas schiefgehen. Wir wollten uns stattdessen auf Prinzipien und etablierte Mechanismen verlassen. Doch das war eine Illusion.
Wir waren nicht nur gezwungen, eigene Entscheidungen zu treffen. Wir taten das in der Folge auch, und zwar ohne uns jemals Gedanken über Regeln dafür gemacht zu haben. Die gute Frage war schließlich, und damit hatte der Tagesspiegel -Journalist Schumann den Punkt getroffen: Wer sollte diese Entscheidungen treffen?
Am Ende war es Julian, der das tat. Natürlich. Wir anderen waren zu unentschlossen, zu feige oder zu wenig resolut, um dem schnellstmöglich einen Riegel vorzuschieben. Er wurde zum Alleinentscheider an der Spitze von WL , und es gab keine Instanz, die ihn kontrollierte. Er wollte auch gar nicht hinterfragt werden. Das war spätestens im Zusammenhang mit der Verhaftung von Bradley Manning zum Problem geworden und hatte sich auch im Verlauf der folgenden Wochen gezeigt. An Julians Ermittlungsverfahren in Schweden sollte unser Team dann endgültig zerbrechen.
Die schwedische Staatsanwältin hatte den Haftbefehl gegen Julian zunächst binnen 24 Stunden wieder zurückgezogen und in den Vorwurf der
Weitere Kostenlose Bücher