Inside WikiLeaks
entscheiden. Und im Zweifel lieber tagelang weiterdiskutieren, als auch nur die Meinung eines einzigen Beteiligten unter den Tisch fallen zu lassen. Wir wollten uns nie unter Zeitdruck setzen lassen. Und wir hielten dann noch fest, dass wir im Zweifel Schnick, Schnack, Schnuck (oder wie es – in anderen Regionen – auch genannt wird: Schere, Stein, Papier) spielen wollten, um ja nicht in eine Situation zu geraten, in der wieder ein Einzelner das Machtwort über die Köpfe aller anderen hinweg hätte sprechen können.
Es war gar nicht so einfach, das Schnick-Schnack-Schnuck-Prinzip so zu Papier zu bringen, dass es halbwegs seriös klang. Wir mussten am Ende doch ein bisschen über uns selber schmunzeln – und strichen es wieder aus dem offiziellen Konzept. Wir hielten aber fest, dass wir ein neutraler Dienstleister werden wollten – und kein politischer Agitator. Wir wollten unbedingt verhindern, dass die neue Organisation den nächsten Popstar fabrizierte.
Als mit dem letzten Chat endgültig feststand, dass wir WL verlassen würden, nahmen die Arbeiten an OpenLeaks an Fahrt auf. Wenn ich auch unendlich traurig war, dass meine Zeit bei WL für immer vorbei war – es war am Ende auch ein Befreiungsschlag.
Ich beschloss außerdem, meinen Ausstieg öffentlich zu machen. Damals stand der Irak-Leak kurz bevor. Ich war dafür zuständig gewesen, den Kontakt zu den Journalisten vom Spiegel zu halten. Bei unserem nächsten Treffen erzählte ich ihnen, dass ich leider nicht mehr für die Betreuung der Kooperation zuständig sei, weil ich nicht mehr zum Team von WL gehörte.
Rosenbach und Stark boten direkt an, ein Interview zu machen. Man könne das noch ins aktuelle Heft nehmen. Doch ich bat um eine Woche Bedenkzeit. Ich musste mir überlegen, was ich sagen und wie viel ich preisgeben wollte. Mir war bewusst, wie frustriert und aufgewühlt ich zu diesem Zeitpunkt war. Ich wollte keinesfalls der Verlockung nachgeben, diesen Frust in einen persönlichen Rachefeldzug ausarten zu lassen. Mein einziges Motiv sollte sein, die Glaubwürdigkeit des Projekts, die ich immer vermittelt hatte, zumindest ein Stück weit zu relativieren und andere Leute aufzuklären, die sich bei WL engagieren, Geld spenden oder Dokumente hochladen wollten. Wenn ich zuvor dafür geradegestanden hatte, dass WL eine verlässliche Sache war, galt es nun, dies öffentlich zu relativieren.
Das war eine neue Situation. Knapp drei Jahre lang hatte ich niemandem etwas darüber erzählt, wie es intern bei uns zuging. Im Gegenteil, ich hatte immer versucht, WL bestmöglich zu verkaufen, und im Zweifel hieß das auch, Bedenken zu zerstreuen oder Kritik zu widerlegen. Dabei hatte ich mitunter ein bisschen sprachliche Kosmetik aufgetragen, bewegte mich manchmal auf einem schmalen Grat zwischen Wahrheit und Propaganda. Die Unwahrheit habe ich bewusst nie gesagt. In den beiden Spiegel-Journalisten sah ich vor allem Zeugen für meine Bedenken.
Wenn ich mich mit Marcel Rosenbach und Holger Stark traf, hörten sie sehr interessiert zu. Holger Stark hatte schon bei den vorangegangenen Gesprächen immer mal wieder seinen Notizblock gezückt. Irgendwann habe ich ihn gefragt, warum er immer mitschriebe. Er wolle sich daran erinnern, was ich sagte, meinte er. Mir wäre es lieber, wenn er das ließe, erwiderte ich und erinnerte sie noch einmal an ihr Versprechen, dass nichts von dem Gesagten irgendwie verwendet würde.
Bei einem der nächsten Gespräche hatte Stark den Notizblock wieder auf dem Tisch. Mich nervte das. Vielleicht war ich zu misstrauisch geworden. Es hatte in den vergangenen Wochen zu viele Missverständnisse gegeben, zu viele Interna, die in den Medien verkürzt dargestellt worden waren und deshalb für Ärger gesorgt hatten. Ich nahm mich daher in dem Spiegel-Interview sehr zurück und äußerte keine allzu heftige Kritik an Julian.
Das Interview erschien am 25. September. Ich war den ganzen Montag über nervös, wartete auf eine Reaktion, vielleicht sogar eine offizielle Stellungnahme von Julian. Nichts passierte. Die Einzigen, die sich meldeten, waren weitere Journalisten. Ich hatte zu dem Zeitpunkt aber überhaupt keine Lust, noch länger über WL und meinen Ausstieg zu reden. Ein, zwei Journalisten habe ich noch ein paar Details zu meinem Ausstieg erläutert, um das Bild zurechtzurücken. Dann brauchte ich erst einmal meine Ruhe.
Dringend.
Die irakischen Kriegstagebücher
Am 22. Oktober 2010 veröffentlichte WL 391 832 Dokumente über
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