Inspector Alan Banks 02 Eine respektable Leiche
IV
Penny Cartwright zog die massive Tür hinter sich zu, legte Schloß und Riegel vor, zog die schweren Vorhänge zu und knipste das Licht an. Nachdem sie ihre Päckchen und Pakete abgestellt und ihr Umhängetuch über einen Stuhl geworfen hatte, zündete sie die Kerzen an, die rundum im Wohnzimmer verteilt waren und in unterschiedlichen Längen aus Untertassen, leeren Flaschenhälsen und richtigen Leuchtern herausragten. Als der flackernde Schein der zahllosen kleinen Flammen den Raum erhellte und die Wände wie schmelzende Butter aussehen ließ, schaltete sie das elektrische Licht aus, schob eine Kassette in den Rekorder und ließ sich auf das Sofa fallen.
Der Raum war still und warm wie die Höhle einer Gebärmutter. Ein Ort, der im Sonnenlicht des Tages hell und fröhlich wirkte und im abendlichen Kerzenschein warm und sicher. Die Wände leer, bis auf ein paar wenige Dinge: eine Kunstpostkarte mit dem Bild «Der Tanz» von Henri Matisse, die ihr ein Freund aus New York geschickt hatte; eine gerahmte Kopie von Sutcliffes berühmtem Foto «Gathering Driftwood» und eine Hochglanzaufnahme von ihr selbst bei einem Konzert, das sie und ihre Band vor Jahren gegeben hatten. In den Nischen zu beiden Seiten des Kamins, beschattet vom Schein der Kerzen, allerhand privater Schnickschnack wie Muscheln, bunte Kiesel und die üblichen albernen Souvenirs, die man aus fremden Ländern zusammenträgt, mit deren Hilfe man sich jederzeit in die einst erlebte Atmosphäre zurückzuversetzen und an alle Einzelheiten des Tages, an dem der Kauf stattfand, zu erinnern glaubt: ein Plastikschlüsselring aus Los Angeles; ein Miniaturprojektor mit Dias von den Niagarafällen; ein kleiner Porzellankrug aus Amsterdam, bemalt mit ihrem Sternzeichen, der Waage; bunt dazwischengestreut die zahllosen Ohrringe, die Penny sammelte, in allen Größen, Formen und Farben.
Sie nahm etwas Hasch und Zigarettenpapier aus einer Dose mit der Aufschrift Old Holborn, drehte sich einen kleinen Joint und wickelte die Halbliterflasche Bell's aus dem Papier. Da es keinen zwingenden Grund gab, ein Glas zu benutzen, setzte sie die Whiskyflasche einfach an den Hals und ließ das brennende Gesöff über Zunge und Kehle rinnen, bis sie tief in ihrem Bauch ein warmes, wohliges Glühen spürte.
Die Kassette spielte alte Folksongs, traditionelles Liedgut ohne Musikbegleitung. Eine kräftige klare Frauenstimme sang von Männern, die in den Krieg ziehen, von untergehenden Schiffen, von häuslichen Tragödien und großen wundersamen Lieben aus längst vergessenen Tagen. Halb unbewußt unterzog Penny den Gesangsstil einer kritischen Überprüfung. Das leise Vibrato war gelungen, aber dieses Zittern bei den hohen Noten tat einfach weh. Als Profi - oder als Exprofi inzwischen - war ihr diese Art von Umgang mit Musik zur zweiten Natur geworden. Alles in allem gefiel ihr diese Stimme, trotz der Schwächen in den Höhen. Sie hatte genug Wärme und emotionalen Ausdruck, um die gelegentlichen technischen Mängel auszugleichen.
Einer der Songs - über einen Mord in Staffordshire vor mehr als zweihundert Jahren - war ihr sehr vertraut. Sie hatte ihn selbst viele Male gesungen, vor einem begeisterten Publikum in allen möglichen Pubs und Konzerthallen. Es war auch eines der ersten Stücke gewesen, die sie mit ihrer Band aufgenommen hatte, weil der Aufbau und die Tonart sich geradezu angeboten hatten für die Begleitung mit EGitarren und Schlagzeug. Trotzdem klang das Lied heute seltsam frisch und neu. Eigentlich hatte es nichts zu tun mit den schlechten Nachrichten, die ihr am Nachmittag zu Ohren gekommen waren - aber Mord blieb Mord, ob er nun zweihundert Jahre zurücklag oder erst in der Nacht zuvor verübt worden war. Vielleicht würde sie selbst ein Lied darüber schreiben. Ein Lied, das dann andere hören würden, in hundert Jahren, warm und sicher aufgehoben wie sie selbst.
Whisky und Hasch taten ihre Wirkung. Penny fühlte, wie sie langsam abdriftete. Plötzlich stand die Erinnerung an diesen lange vergangenen, wunderbaren Sommer wieder ganz klar vor ihren Augen, plastisch wie der gestrige Tag. Sicher, es hatte manches gute Jahr gegeben und manche schöne Zeit, bevor der Ruhm, die wilden Zeiten des Erfolgs alles verdorben hatten, aber jener Sommer vor zehn Jahren war das herausragende Ereignis geblieben. Während sie ihn in Gedanken nachlebte, spürte sie wieder das sonnenwarme Grün der Wiesen, fühlte die Erde unter sich und den Geruch der Tiere
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