Inspector Alan Banks 02 Eine respektable Leiche
der Nähe des Rathauses ab. Von hier aus konnte er bereits den hohen weißen Turm der Universitätsbibliothek erkennen, den ihm Gristhorpe noch am Morgen beschrieben hatte, im Rahmen einer kurzen Einführung in die Geschichte und die architektonischen Besonderheiten der Stadt.
Da er keine konkrete Vorstellung hatte, wie er den Herren Professoren begegnen sollte, hatte er beschlossen, die Dinge einfach auf sich zukommen zu lassen. Einstweilen hatte man lediglich miteinander telefoniert und sich zum Mittagessen in einem Pub bei der Universität verabredet. Trotz der offiziellen Semesterferien fuhren Darnley und Talbot nahezu täglich in ihre Büros, wobei nicht klar zu erkennen war, ob sie sich dort ihren Forschungen widmeten oder einfach nur ihren Frauen entgehen wollten. Darnley hatte sich jedenfalls am Telefon ausgesprochen interessiert gezeigt an einem «kleinen Schwatz mit der Polizei», dabei aber so nüchtern geklungen, als halte er einen Vortrag über die Paarungstechniken der Lemuren.
Da ihm noch eine Stunde Zeit blieb bis zu dem verabredeten Treffen, beschloß er, Gristhorpes Rat zu folgen und das Rathaus zu besichtigen, einen imposanten Bau im viktorianischen Stil, perfekt gestaltet mit kannelierten Säulen, gewaltiger Dachkuppel, einer Turmuhr und zwei ruhenden Löwen zu beiden Seiten der breiten Freitreppe.
Banks bewunderte die monumentale Sandsteinfassade des Gebäudes, die kühnen, klassischen Linien seines Entwurfs, die den Eindruck erweckten, als könne man den Stolz der Bürger, die dieses Bauwerk hatten entstehen lassen, mit Händen greifen. Königin Viktoria war bei der Einweihung zugegen gewesen, erinnerte sich Banks und stellte sich vor, daß die gekrönten Häupter in jener Zeit wohl viel zu tun gehabt hatten mit solchen Eröffnungszeremonien.
Er schlenderte ins Innere des Gebäudes, vorbei an den Statuen von Viktoria und Albert im Foyer, in den großen Festsaal, den man offenkundig erst vor kurzem restauriert hatte. Rundum an den Wänden erhoben sich riesige Säulen aus grün, blau und rosa marmoriertem, poliertem Stein zu einer Decke aus glänzenden, farbigen Holzpaneelen, quadratisch angeordnet und mit Blattgoldverzierungen an den Ecken. Über den auf der Empore gelegenen Sitzplätzen waren Schmucktafeln mit Zitaten und Sinnsprüchen aus viktorianischer Zeit angebracht: EXCEPT THE LORD BUILD THE HOUSE, THEY LABOUR IN VAIN THAT BUILD IT; EXCEPT THE LORD KEEP THE CITY, THE WATCHMAN WATCHETH BUT IN VAIN; WEAVE THE TRUTH WITH TRUST; LABOR OMNIA VINCIT. Im Hintergrund der Orchesterbühne erhob sich eine majestätische Orgel.
Banks warf einen Blick auf seine Uhr und schlenderte gemächlich zum Ausgang. Seine Schritte hallten durch die Stille. Es war wirklich ein eindrucksvolles Bauwerk, und ihm dämmerte allmählich, was Steadman an diesen geschichtlichen Dingen so fasziniert hatte.
Aber auch Hacketts Empörung über die Glorifizierung der Vergangenheit wurde verständlicher an einem Ort wie diesem. Die wohlhabenden Ratsherrn und Kaufleute hatten offensichtlich alles darangesetzt, der Queen Victoria den Anblick der weniger herzeigbaren Stadtviertel zu ersparen: die endlosen Ketten der Rücken an Rücken liegenden ärmlichen Reihenhäuser mit ihren undichten Dächern und ewig feuchten Wänden, in denen die namenlose Masse vegetiert hatte. Der vielen kleinen Leute, durch deren Arbeit und in deren Namen - im Namen des sogenannten Bürgerstolzes - ein Prachtbau wie dieses Rathaus erst möglich geworden war, während sie selbst zu Schmutz und Elend verdammt waren und obendrein noch bezichtigt wurden, wie die Tiere zu hausen. Gristhorpe hatte sogar von einem Apotheker berichtet, der beim Erscheinen des königlichen Geleitzuges rund um seinen Laden Parfüm zerstäubt hatte, um die erlauchten Nasen nicht mit dem Armeleutemief zu beleidigen. Es kam eben immer darauf an, auf welcher Seite man stand und aus wessen Perspektive man die Dinge sah, dachte Banks.
Nach einem kurzen Blick in den Stadtplan setzte er seinen Weg fort, zwischen Rathaus und Bibliothek hindurch über die Caverley Street, vorbei an der Stadthalle - einem großen weißen Bau mit zwei spitzen Doppeltürmen und bunt blühenden Gartenanlagen -, den städtischen Kliniken und dem Polytechnikum bis zu den Ausläufern des Universitätsgeländes. Schließlich gelangte er zu einem viereckigen Komplex von nüchtern-modernen Gebäuden, die eher nach Bürohäusern aussahen und deutlich machten, daß es ein langer Weg
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