Inspector Alan Banks 02 Eine respektable Leiche
Bilder aus den bunten Magazinen und den Programmzeitschriften überstürzten sich. «Vogue»Models tänzelten über die Champs-Elysees, Hollywoodstars entstiegen ihren Luxuslimousinen unter den Neonreklamen des Sunset Strip, und sämtliche Fernsehberühmtheiten, die sie je gesehen hatte, gaben sich ein Stelldichein auf einer Cocktailparty in Manhattan...
Allmählich verblaßten die bunten Phantasien, und am nächsten Morgen blieb nur die bizarre Erinnerung an die Straßen von Leeds, die ihr von den gelegentlichen Einkaufsfahrten mit ihrer Mutter vertraut waren. In ihrem Traum hatte sie allerdings das Gefühl gehabt, sich in einer völlig fremden Stadt zu befinden. Überall hatten Polizisten herumgestanden, und sie hatte ihr Fahrrad schieben müssen, weil sie keinen Führerschein gehabt hatte, jedenfalls keinen passenden für Leeds. An den Grund ihrer Reise konnte sie sich nur dunkel erinnern. Sie hatte einen entflogenen Vogel gesucht, einen weißen Vogel aus ihrem riesigen, dunklen Garten, der ausgesehen hatte wie eine weite, grünende Wiese nach dem ersten Regen. Trotz aller Anstrengung konnte sie sich nicht mehr erinnern, ob es ein wilder Vogel oder eine Art Haustier gewesen war, für das sie sich verantwortlich gefühlt hatte. Sie wußte nur, daß es irgendwie wichtig war, daß sie das Fahrrad vor sich hergeschoben hatte, durch diese Menge von Polizisten, und immerfort Ausschau gehalten hatte nach diesem Vogel...
* V
Banks schob die Kassette mit Finzis Chorfassung von «Intimations of Immortality» in den Rekorder des Autoradios, verließ die Al am Verkehrskreuz Wetherby und nahm die A58 in Richtung Leeds. Es war elf Uhr dreißig am Freitag morgen und damit exakt fünf Tage her, daß man Steadmans Leiche gefunden hatte. Hatchley war nach seinem Besuch in Darlington am darauffolgenden Donnerstag reichlich angesäuselt im Büro erschienen, hatte aber Hacketts Alibi gründlich überprüft und festgestellt, daß es der Wahrheit entsprach. Barnes war inzwischen auch aus dem Rennen, ungeachtet der Tatsache, daß er mangels einer Ehefrau niemanden hatte, der bestätigen konnte, daß er von Mrs. Gaskell direkt nach Hause gegangen war. Seine Finanzen waren jedoch in Ordnung, und es deutete nichts darauf hin, daß ihm während seiner zwanzigjährigen Arzttätigkeit in Helmthorpe auch nur die kleinsten Unregelmäßigkeiten oder Kunstfehler unterlaufen waren.
Vor seiner Fahrt nach Leeds hatte Banks noch den Papierberg durchgearbeitet, der sich am Vortag auf seinem Schreibtisch angesammelt hatte: Vernehmungsprotokolle, Wegeskizzen und Termintabellen der einzelnen Personen, Aufstellungen der Fragen, die einstweilen noch offen waren, weil sie nicht gestellt oder unbefriedigend beantwortet worden waren. Eine zweite Durchsicht der Laborberichte hatte keine weiteren Erhellungen gebracht, und die Tatsache, daß sich Constable Weaver und seine Mannen weiterhin durchs Dorf fragten, würde wohl auch kaum zu neuen Erkenntnissen führen, da das Gedächtnis der Leute nach so langer Zeit erfahrungsgemäß deutlich nachließ.
Zu der Solostimme des Baritons nahm der Chor nun das Anfangsthema wieder auf - «There was a time when meadow, grove and stream...» - und ließ Banks für einen Augenblick die oft unerfreulichen Aspekte seines Jobs vergessen. Finzis Musik machte die Lyrik von Wordsworth immerhin erträglich.
Nachdem er die Great North Road mit ihrem endlosen Lastwagenstrom hinter sich gelassen hatte, verlief die Weiterfahrt, bei der er keine sonderliche Eile vorlegte, weitaus erfreulicher. Er hatte die direkte und kürzeste Verbindung gewählt, wie bei seinem letzten Besuch in Leeds, als er dort einen Pfandleiher im Zusammenhang mit einer Einbruchsserie vernommen hatte. Damals hatte es allerdings geregnet, an einem trüben, grauen Tag Ende Oktober, und heute schien die Sonne. Es war Sommer, und er fuhr durch eine satte grüne Landschaft, eine friedliche Idylle, die typisch war für die Umgebung englischer Großstädte.
Die Pfeife war zum zweitenmal ausgegangen, und er gab es auf, sie erneut anzuzünden. Statt dessen rauchte er sie kalt, lauschte Finzis Musik und befand sich bald schon in der Nähe von Seacroft, wo er ohnehin aufpassen mußte, nicht die Richtung zu verfehlen. Die hohen Betonklötze sahen alle mehr oder weniger gleich aus, und es gab wenige Schilder, an denen man sich orientieren konnte. Nach einer langen Unterführung landete er schließlich im Stadtzentrum und stellte den Wagen in
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