Inspector Alan Banks 06 Das verschwundene Lächeln
sie mal kurz in den Laden gegangen. Man kann Kinder ja nicht jede Sekunde im Auge behalten. Sie ist immerhin sieben. Sie weiß, dass man erst nach rechts und dann nach links gucken muss, bevor man über die Straße geht, und dass man von Fremden keine Süßigkeiten annimmt.« Als ihr bewusst wurde, was sie da gesagt hatte, legte sie eine Hand vor den Mund und ihre Augen füllten sich mit Tränen.
»Es tut mir Leid, wenn es schmerzlich für Sie ist«, sagte Banks, »aber es ist wichtig.«
»Ich weiß.«
»Würden Sie sagen, dass Gemma ein glückliches Kind war?«
»Ich denke schon. Kinder leben in ihrer eigenen Welt, oder?«
»Neigte sie zu Übertreibungen oder Lügen?«
»Nein, eigentlich nicht.«
»Ich habe gehört, dass Les einige Bücher von Gemma weggeworfen hat. Was sagen Sie dazu?«
Les Poole richtete sich auf und drehte sich zu Banks. »Was?«
»Sie haben mich schon verstanden, Les. Was war so schlimm daran, dass sie um halb drei Tusche auf Ihre Zeitung schüttete?«
Für ein paar Sekunden sah Poole verwirrt aus, dann lachte er laut los. »Wer hat Ihnen das denn erzählt?«
»Spielt keine Rolle. Was war los?«
Er lachte erneut. »Es war die Halb-drei-Uhr-Ausgabe aus Cheltenham. Die kleine dumme Gans hat ihr Malwasser über mein Wettformular geschüttet. Der Becher, in den sie ihre verdammten Pinsel reingesteckt hat, ist umgekippt.«
»Und deshalb haben Sie ihre Bücher weggeworfen?«
»Jetzt werden Sie nicht komisch. Das waren doch nur ein paar alte Malbücher. Sie hat am anderen Ende des Tisches gemalt und dann den Becher umgekippt und meine ganze Wettzeitung versaut. Also habe ich mir ihre Bücher geschnappt und zerrissen.«
»Wie hat sie reagiert?«
»Ach, sie hat eine Weile geheult und geschmollt.«
»Haben Sie sie mal fest am Arm gepackt?«
»Nein, ich habe sie nie angefasst. Nur die Bücher. Hören Sie, was soll ...«
»Warum haben Sie ihr nicht die neuen Bücher gekauft, die sie haben wollte?«
Poole lehnte sich zurück und schlug die Beine übereinander. »Konnten wir uns nicht leisten. Man kann Kinder auch nicht jeden Wunsch erfüllen, oder? Wenn Sie selbst Kinder haben, sollten Sie das wissen. Ich hatte vielleicht nicht viel Zeit für die kleine Göre, aber ich bin nicht mit ihr abgehauen, klar? Wir sind die Opfer, nicht die Täter. Ich glaube, es ist an der Zeit, dass Sie das begreifen.«
Banks sah ihn an und Poole wandte schnell seinen Blick ab. Banks musste plötzlich an seine erste Lektion über die Haltung der Polizei denken. Er war am Verhör eines unbedeutenden Diebes wegen eines Einbruchs in Belsize Park beteiligt gewesen und am Ende überzeugt, dass der Mann nichts damit zu tun gehabt hatte. Als er mit Erstaunen gesehen hatte, dass trotzdem Anzeige gegen ihn erstattet wurde, hatte er dem zuständigen Beamten seine Zweifel vorgetragen. Der Mann, ein Veteran mit zwanzig Dienstjahren auf dem Buckel namens Bill Carstairs, hatte Banks kopfschüttelnd angeschaut und dann gesagt: »Mit dieser Sache hat er vielleicht nichts zu tun, aber so sicher wie das Amen in der Kirche hat er etwas angestellt, für das er eingesperrt gehört.« Wenn Banks Poole betrachtete, musste er das Gleiche denken. Irgendeiner Sache war der Mann schuldig. Wenn er auch nichts mit Gemmas Verschwinden oder dem Einbruch in Fletchers Warenhaus zu tun hatte, irgendeiner Sache war er schuldig.
Banks wandte sich wieder an Brenda Scupham.
»Sie glauben, wir hätten Gemma misshandelt, oder?«, meinte sie.
»Ich weiß es nicht.«
»Sie haben Klatsch aufgeschnappt. Klatsch von Kindern, so wie es aussieht. Hören Sie, ich gebe zu, dass ich sie nicht gewollt habe. Ich war einundzwanzig, das Letzte, was ich wollte, war ein Kind am Hals. Aber ich wurde katholisch erzogen, ich konnte sie nicht loswerden. Ich bin vielleicht nicht die beste Mutter auf Erden. Ich bin vielleicht egoistisch, vielleicht bin ich nicht dazu in der Lage, sie schulisch zu fördern oder ihr so viel Aufmerksamkeit zu schenken, wie ich sollte. Ich bin nicht mal eine gute Hausfrau. Aber all das ... Was ich sagen will, ist, dass ich sie nie misshandelt habe.«
Es war eine leidenschaftliche Rede gewesen, aber Banks hatte das Gefühl, dass Brenda zu viel beteuerte. »Was ist mit Les?«, fragte er.
Sie warf einen kurzen Blick auf ihn. »Wenn er sie angerührt hätte, dann wäre er hier rausgeflogen, bevor er auch nur einen Fuß auf den Boden
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