Inspector Alan Banks 06 Das verschwundene Lächeln
Natur nicht mehr in Erstaunen versetzt, fragte sie sich. Wie ist das passiert? Wo führt das hin? Sie konnte sich zwar noch immer an der Landschaft erfreuen - es war nicht zu übersehen, wie schön sie war, ganz zu schweigen davon, wie gut der Gesundheit ein Ausflug an so einem herrlichen Herbstmorgen tat -, aber es fehlte ihr die Begeisterung. Um ehrlich zu sein, liebte sie die Läden und die hektischen Geräusche der Stadt viel mehr. Selbst Eastvale wäre vorzuziehen gewesen. Aber nein: Roger hatte gemeint, man müsse die Gelegenheit für einen neuen, heilsameren Lebensstil am Schopfe packen, wenn sie sich anböte. Und so waren sie im langweiligen, verschlafenen Lyndgarth gelandet.
Ab und zu ein Wochenende auf dem Land passte Marjorie ausgezeichnet, denn dafür war das Land ja schließlich da, wenn man nicht gerade Bauer, Maler oder Dichter war. Aber hier wohnen? Sie kam sich wie in einem Gefängnis vor. Sie hatte bisher keinen Job finden können und die neuen Nachbarn waren auch nicht gerade besonders freundlich. Jemand hatte ihr erzählt, man müsse zwei Winter hier zubringen, bevor man akzeptiert werde, doch sie glaubte nicht, es so lange aushalten zu können. Und die Tatsache, dass Roger in seinem Element war, half ihr auch nicht weiter. Sie langweilte sich entsetzlich. Sie hatte auch keine Kinder, die sie wie Jane den ganzen Tag auf Trab gehalten hätten. Aber immerhin hatte ihr Besuch eine willkommene Abwechslung in ihr tägliches Einerlei gebracht. Dafür sollte sie dankbar sein. Und sie wäre es auch gewesen, wenn Roger nicht die Gelegenheit ergriffen hätte, Vorträge zu halten.
»Die Minen der Pennines sind die einzigen in Yorkshire. Wisst ihr, wieso? Weil Bleierz im Karbongestein vorkommt - in den Yoredale Series und im Millstone Grit. Die Erze sind nicht wirklich Teil des Gesteins, sondern ...«
Schließlich erreichten sie die alte Schmelzhütte, eigentlich kaum mehr als ein Steinhaufen und nicht größer als ein Einfamilienhaus. Fast das ganze Dach war eingestürzt, nur die verwitterten Balken waren übrig geblieben. Drinnen sah man im Sonnenlicht, das durch das Dach und die Lücken in den Mauern auf die Überreste der Erzherde und Schmelzöfen schien, wie die Staubkörner tanzten, die sie aufwirbelten. Marjorie hatte die alte Hütte nie gemocht. Sie war ein öder, übel riechender, mit Spinnen übersäter Ort. In einer Ecke sah man einen dunklen Fleck auf dem staubigen Boden, so als hätte sich dort ein betrunkener Wanderer übergeben.
»In den frühen Bleihütten«, fuhr Roger fort, »wurde zuerst der Schwefel abgebrannt und dabei das Bleierz in Bleioxid umgewandelt. Für dieses Röstreduktionsverfahren benötigte man natürlich entsprechende Vorrichtungen. Zu der Zeit, als diese Hütte gebaut wurde, wurden vertikale Schmelzöfen erfunden, die mit Blasebalgen ausgestattet waren ...«
Mit anerkennenden Ausrufen und Blicken folgten alle gehorsam seinem Zeigestock. Er hätte Fremdenführer werden sollen, dachte Marjorie.
Plötzlich schaute sich Jane unruhig in der Hütte um. »Wo ist Megan?«, fragte sie.
»Die spielt wahrscheinlich draußen«, antwortete Marjorie, und da sie den ängstlichen Unterton in Janes Stimme vernommen hatte, erklärte sie: »Keine Sorge, ich suche sie. Dieses Geschwafel habe ich sowieso schon x-mal gehört.« Als sie hinausging, starrte ihr Roger zornig hinterher.
Dankbar, der düsteren Schmelzhütte und dem monotonen Echo von Rogers Stimme entkommen zu sein, legte Marjorie eine Hand über die Augen und schaute sich um. Megan kletterte gerade über einen Geröllhaufen, der zur Öffnung des Rauchabzugs führte. Marjorie wusste alles über den Rauchabzug, weil ihr Roger die wichtigsten Abschnitte eines Buches, das davon handelte, mehrmals laut vorgelesen hatte. »Hör dir das an, Liebling ...« Aber alles, was im Moment für sie zählte, war, dass er gefährlich sein konnte.
Der Rauchabzug war ein aus Backstein gemauerter Wall von ungefähr zweihundert Metern Länge, der ursprünglich gebaut worden war, um den Rauch des Schmelzprozesses abziehen und kondensieren zu lassen und ihn weit weg von der unmittelbaren Umgebung zu tragen. Er ähnelte einem auf die Seite gefallenen und halb in den sanften Hang des Berges vergrabenen Fabrikschornstein. Aufgrund seines Alters waren an manchen Stellen Teile des gewölbten Daches eingestürzt; andere Stellen sahen so aus, als würden sie jeden Moment herunterkrachen. Ursprünglich hatte der
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