Inspector Alan Banks 08 Der unschuldige Engel
haben, kommt es nicht selten vor, dass sie zuschauen müssen, wie der Anwalt des Angeklagten die Beweise in der Luft zerreißt. »Manchmal«, stimmte er zu. »Hat Deborah mal von einem Owen Pierce gesprochen?«
Sylvie runzelte die Stirn. »Nein, den Namen habe ich noch nie gehört.«
Banks beschrieb Pierce, aber die Beschreibung sagte ihr nichts.
Sie schenkte Tee ein, wobei sie ihren Kopf leicht neigte und sich auf die Zungenspitze biss. Der Lapsang roch und schmeckte gut, sein rauchiges Aroma war genau das Richtige an einem grauen, kalten Novembertag. Die Fenster klapperten, draußen pfiff der Wind durch die Bäume und wirbelte Staub und Laub auf. Sylvie Harrison legte beide Hände um ihren Becher, als wollte sie sie wärmen. »Was wollen Sie von mir wissen?«, fragte sie.
»Ich versuche, so viel ich kann darüber herauszufinden, was für ein Mensch Deborah war. Aber es gibt immer noch einige Lücken.«
»Zum Beispiel?«
»Ihre Beziehungen zu Jungen zum Beispiel.«
»Ach, Jungen! Deborah war in der Schule viel zu beschäftigt, um Zeit dafür zu haben. Die hätte sie später noch zur Genüge gehabt. Nachdem sie ihre Ausbildung abgeschlossen hätte.«
»Trotzdem. Da war der Sommer.«
Sylvie wich seinem Blick nicht aus. »Sie hatte keinen Freund.«
Banks hielt inne. Er hatte das Gefühl, mit jedem weiteren Wort das Grab für seine Karriere zu schaufeln. »Das entspricht nicht dem, was ich gehört habe«, sagte er langsam. »Mir hat jemand erzählt, dass sie im August einen Freund hatte.«
Sylvie wurde blass. Sie presste ihre Lippen so fest aufeinander, dass sie fast weiß wurden.
»Sie hatte also einen Freund?«, fragte Banks erneut.
Sylvie seufzte und nickte dann. »Ja. Im Sommer. Aber sie hat mit ihm Schluss gemacht.«
»War sein Name John Spinks?«
Sie hob ihre Augenbrauen. »Woher wissen Sie das?«
»Sie wussten von ihm?«
Sie nickte. »Ja. Ein höchst unangenehmer Mensch.«
»Warum war Ihrer Meinung nach ein so intelligentes, hübsches Mädchen wie Deborah mit so jemandem zusammen?«
Ein distanzierter Blick trat in ihre Augen. »Ich weiß es nicht. Ich nehme an, er war gut aussehend, vielleicht in gewisser Weise aufregend. Manchmal macht man Fehler«, sagte sie mit einem Achselzucken, das Banks typisch französisch fand. »Manchmal macht man sich selbst zum Narren und verkehrt aus völlig falschen Gründen mit den falschen Leuten.«
»Welche Gründe?«
Sie zuckte erneut die Achseln. »Die Gründe einer Frau. Einer jungen Frau.«
»Hatte Deborah Sex mit John Spinks?«
Sylvie hielt einen Moment inne, dann nickte sie. »Ja«, bekannte sie seufzend. »Eines Tages bin ich unerwartet nach Hause gekommen und habe die beiden in Deborahs Zimmer erwischt. Ich war außer mir vor Wut. Ich schrie ihn an und warf ihn hinaus und sagte ihm, er solle sich nie wieder hier blicken lassen.«
»Wie hat er reagiert?«
Sie errötete. »Er beschimpfte mich auf eine Art, die ich vor Ihnen nicht wiederholen möchte.«
»Ist er gewalttätig geworden?«
»Er hat mich nicht geschlagen, wenn Sie das meinen.« Sie deutete mit dem Kopf zur Diele. »Dort stand eine Vase neben der Tür, keine besonders wertvolle, aber eine sehr schöne Vase, ein Geschenk meines Vaters. Er hob sie mit beiden Händen hoch und warf sie heftig gegen die Wand. Eine kleine Scherbe ist weggebrochen und hat mein Kinn getroffen und mich geschnitten.« Sie strich über die kleine Narbe.
»Ist er danach gegangen?«
»Ja.«
»Haben Sie Sir Geoffrey davon erzählt?«
»Nein.«
»Warum nicht?«
Es dauerte einen Augenblick, ehe sie antwortete. »Sie müssen verstehen, dass Sir Geoffrey in mancher Hinsicht sehr altmodisch sein kann, besonders was Deborah betrifft. Ich habe ihm nicht einmal erzählt, dass sie sich mit dem Jungen trifft. In Anbetracht von Spinks' Charakter und Herkunft hätte er ihr das Leben sehr schwer gemacht, wenn er es gewusst hätte. Ich ... nun ... ich bin eine Frau, und ich glaube, in gewisser Hinsicht habe ich besser verstanden, in welcher Phase sie war - auf jeden Fall besser, als Sir Geoffrey sie verstanden hätte. Ich habe es zwar nicht gebilligt, aber ich wusste, dass sie diese Seite ausleben musste. Wenn man sie davon abgehalten hätte, wäre sie nur umso entschlossener gewesen. Auf lange Sicht hätte es wahrscheinlich noch mehr Schaden angerichtet. Verstehen Sie, was ich
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