Inspector Alan Banks 08 Der unschuldige Engel
Zelle zu schätzen. Er kam zu dem Schluss, dass sie ungefähr zweieinhalb mal drei Meter groß war. Als Nächstes legte er sich auf die harte, schmale Matratze und starrte die Risse in der Decke an. Er hatte erwartet, durchgestrichene »Tage« an den Wänden zu finden, wie er es in Filmen gesehen hatte, aber er konnte keine entdecken. Es gab auch nicht die Spur eines Graffito und keinen mit einem Fingernagel eingeritzten Namen, an dem er hätte sehen können, wer als Letzter hier gewesen war.
Vielleicht war es sogar der Ripper gewesen. Owen erschauderte. Ein dummer Gedanke, sagte er sich selbst. Es war Jahre her, dass Sutcliffe hier inhaftiert gewesen war. Dutzende von Häftlingen mussten seitdem in dieser Zelle gesessen haben. Dennoch ... eine Zelle, in der es spukte, das hatte ihm gerade noch gefehlt.
Es war an der Zeit, seine Fantasie zu zügeln und sich über seine Situation klar zu werden. Er war sich völlig bewusst, was mit ihm passieren könnte, im schlimmstmöglichen Fall, wie Wharton es am Morgen ausgedrückt hatte, und darüber durfte man gar nicht nachdenken.
Wharton hatte bereits mit seiner Einschätzung des Schiedsgerichts Recht gehabt. Die ganze Angelegenheit war in wenigen Minuten vorbei gewesen und Owen hatte sich in Untersuchungshaft in Erwartung eines Mordprozesses wiedergefunden. So viel zu Wahrheit und Gerechtigkeit.
Was ihm jetzt am meisten Sorgen machte, waren die praktischen Dinge: sein Job, das Haus, das Aquarium, sein Wagen. Wharton hatte seine Schlüssel genommen und versichert, er werde sich um alles kümmern, aber trotzdem ... Hatte jemand seinen Fachbereich an der Berufsschule informiert? Und wenn, was hatte der Leiter getan? Es dürfte nicht besonders schwierig sein, seine Seminare unter den Kollegen aufzuteilen, bis sie von einem Aushilfsdozenten übernommen werden konnten; aber was wäre, wenn sich diese Angelegenheit über Monate hinzog? Er war nicht fest angestellt, die Schule konnte ihn also jederzeit entlassen. Ob er wohl, wenn er seinen Job wegen dieser Farce, wegen dieses absurden Irrtums verlor, eine Entschädigung erhalten würde?
Das Haus würde seines bleiben, solange sein Bankkonto die Daueraufträge für seine Hypothek abdeckte, und das müsste lange genug so sein. Schließlich hatte er einmal ziemlich anständig verdient und nur sehr geringe Ausgaben. Er hoffte, dass sein Nachbar Ivor, der auch einen Schlüssel hatte, sich um die Fische kümmern würde.
Die Schritte auf dem Gang unterbrachen seinen Gedankenstrom, dann hörte er den Schlüssel im Schloss. Es war bereits Essenszeit. Der Wärter hatte ihm außerdem einen Filzstift, einen Schreibblock und Umschläge sowie eine überraschend zerlesene Ausgabe von Wordsworth' Gesammelten Gedichten und die Gründungstrilogie von Isaac Asimov mitgebracht.
Nachdem er aufgegessen und die Tür sich wieder hinter dem Wärter geschlossen hatte, nahm Owen den Stift und setzte sich an den Tisch. Wem er schreiben sollte, wusste er nicht, aber er könnte sich die Zeit damit verkürzen, ein Tagebuch über seine Erlebnisse und Eindrücke zu führen. Wer weiß, vielleicht würde es eines Tages veröffentlicht werden.
Sechsundfünfzig Tage oder länger, hatte Wharton gesagt. Okay, wenn er schon nichts dagegen unternehmen konnte, dann sollte er sich am besten gleich damit abfinden.
* ZEHN
* I
Die Büros der Eastvaler Staatsanwaltschaft befanden sich in der obersten Etage eines zugigen, alten dreistöckigen Gebäudes in der North Market Street zwischen Gemeindezentrum und Rathaus. Das Erdgeschoss wurde von einer auf Kunden mit Übergröße spezialisierten Boutique und einem Laden, der importierte belgische Schokolade verkaufte, eingenommen. Irgendwo im Haus hatte ein Zahnarzt seine Praxis. Manchmal konnte man, während man gerade einen Fall besprach, den Bohrer hören.
Der für die Pierce-Akten zuständige Chefankläger war Stafford Oakes, ein schäbiger, kleiner Kerl mit Ellbogenflicken, schmierigem Haar, einer spitzen Nase und Adleraugen. Banks hatte schon bei einer Reihe von Fällen mit Oakes zusammengearbeitet und großen Respekt für ihn entwickelt.
Banks war in Begleitung von Inspector Stott, und neben Oakes saß seine Kollegin Denise Campbell, deren teure und elegante Designergarderobe im starken Kontrast zu Oakes' Klamotten aus dem Schlussverkauf stand. Denise war eine attraktive und ehrgeizige junge Anwältin mit kurzem schwarzem Haar und blasser Haut. Banks hatte sie
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