Inspector Alan Banks 08 Der unschuldige Engel
geschützt war. Ich hatte Angst.«
»Und am nächsten Tag?«
»Ich habe meinen Stolz unterdrückt, bin zurück zu meinen Eltern gegangen und habe überlegt, was ich machen soll. Einen Monat später habe ich den Job hier unten bekommen.«
»Was haben Sie Ihren Eltern erzählt?«, fragte Susan.
»Die Wahrheit konnte ich ihnen kaum erzählen, oder? Ich schämte mich zu sehr. Das konnte ich niemandem erzählen. Ich habe ihnen gesagt, dass ich einfach nicht glücklich gewesen wäre mit Owen, und das haben sie geglaubt. Im Grunde wollten sie nichts anderes hören. Sie hatten ihn nur einmal getroffen und von Anfang an nicht gemocht. In ihren Augen war er zu alt für mich. Ich brauchte ihnen nur zu sagen, was sie hören wollten, und bei ihnen zu Kreuze kriechen. Sie haben immer geglaubt, was ich ihnen erzählt habe.«
»Warum haben Sie den Vorfall nicht der Polizei gemeldet?«, wollte Banks wissen.
»Das habe ich Ihnen doch gesagt. Ich schämte mich zu sehr. Detective Constable Gay wird das bestimmt verstehen.«
Susan nickte. »Ja.«
»Ach, ich weiß, was ich hätte tun müssen«, fuhr Michelle fort. »Besonders jetzt, nachdem das mit diesem armen Schulmädchen passiert ist. Irgendwie fühle ich mich furchtbar schuldig, beinahe verantwortlich. Aber man kann doch nicht vorhersehen, was ein Mensch tun wird, wie weit er gehen wird, oder? Ich wusste, dass Owen nicht ganz normal war, dass er gefährlich sein konnte. Ich hätte nur wissen müssen, wie gefährlich er wirklich werden kann, und ich hätte ihn bei der Polizei anzeigen müssen. Aber ich hatte Angst.« Sie schaute wieder Susan an. »Außerdem hatte ich von den schrecklichen Dingen gehört, die man vor Gericht den Mädchen antut, die eine solche Anzeige machen. Dass es so hingestellt wird, als sei man selbst die Schuldige, als sei man einfach eine Schlampe, und dass dann alle möglichen Ärzte kommen und ... Ich ... ich dachte, das würde ich nicht durchstehen. Ich meine, ich habe ja mit Owen zusammengelebt. Und am Anfang hatte ich mich ihm freiwillig hingegeben. Wie hätte man das vor Gericht beurteilt? Man hätte gesagt, dass ich ihn so weit gebracht hätte, das hätte man gesagt.«
»Heutzutage haben es Vergewaltiger nicht mehr so leicht vor Gericht, Michelle«, wandte Susan ein. »Es wäre sicherlich nicht so gewesen.«
»Aber woher sollte ich das wissen?«
»War das der einzige Grund, warum Sie den Vorfall nicht angezeigt haben?«, fragte Banks. »Aus Angst vor der Polizei und dem Gericht?«
»Nun, hauptsächlich. Aber dann gab es ja auch noch Owen, nicht wahr? Ich meine, nachdem einem ein Mensch so etwas angetan hat, so etwas Brutales, da muss man sich doch fragen, zu was er sonst noch fähig ist, oder? Man hört immer wieder von Männern, die Frauen auflauern, und was sie ihnen antun. Ich habe mich geschämt, aber ich hatte auch Angst. Angst davor, was er tun könnte.« Sie schaute auf ihre Uhr. »Mein Gott, schon nach zwei!«, sagte sie. »Ich muss jetzt wirklich gehen. Mr Littlewoods Großzügigkeit hat auch ihre Grenzen.«
»Angesichts dessen, was Sie uns gerade erzählt haben«, sagte Banks, »würden wir gerne eine vollständige Aussage von Ihnen haben. Wenn Sie keine Einwände haben, könnten wir sie aufnehmen, nachdem Sie heute Feierabend haben.«
Michelle biss sich auf die Unterlippe und dachte einen Augenblick nach.
»Okay«, sagte sie. »Von mir aus. Machen wir es. Bringen wir es hinter uns. Ich bin um halb sechs fertig.«
»Wir werden warten.«
Als sie ging, schauten sie ihr hinterher, dann zündete sich Banks noch eine Zigarette an und beide bestellten einen Cappuccino. »Tja«, sagte Banks, »sieht so aus, als müssten wir uns den Nachmittag in der Großstadt um die Ohren schlagen. Wollen Sie die Kronjuwelen sehen? Oder das Black Museum besichtigen? Wir könnten natürlich auch schon Weihnachtseinkäufe tätigen.«
Susan lachte. »Nein danke, Sir. Aber was halten Sie davon, wenn wir Phil Richmond bei Scotland Yard anrufen? Vielleicht kann er sich für ein Stündchen freimachen.«
»In Ordnung«, sagte Banks. »Rufen Sie ihn doch an.«
»Ja, Sir. Haben Sie ein Zehnpennystück?«
* IV
Das Armley-Gefängnis zeichnete sich vor ihm ab wie eine mittelalterliche Festung. Durch das Gitterfenster, das ihn vom Fahrer des Busses trennte, konnte Owen nur einen Teil des Gebäudes sehen, aber er kannte es bereits gut genug. Als er in Leeds auf der
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