Inspector Alan Banks 10 In einem heißen Sommer
leerte das Whiskyglas und ging zurück ins Haus. Sein Bett roch immer noch nach Annie, und er war dankbar dafür, als er sich hin- und herwarf und einzuschlafen versuchte.
Seit Vivian Elmsley Glorias Bild im Fernsehen gesehen und ihren Namen gehört hatte, hatte sie darauf gewartet, dass die Polizei an ihrer Tür klopfte. Sie hatte ja keine großen Vorkehrungen getroffen, ihre Spuren zu vertuschen. Nie hatte sie bewusst versucht, ihre Vergangenheit und Identität zu verschleiern, obwohl sie sie sicherlich beschönigt hatte. Vielleicht deutete auch das Leben, das sie bisher geführt hatte, auf eine gewisse Art von Flucht hin. In jedem Stadium hatte sie sich neu erfinden müssen: die selbstlose Pflegerin, die Diplomatengattin, die unauffällige junge Witwe mit dem roten Sportwagen, die aufstrebende Schriftstellerin, die Prominente mit dem kleinen Eissplitter im Herz. Sollte das ihre letzte Rolle sein? Welches war die echte Vivian? Sie wusste es nicht. Sie wusste nicht einmal, ob es eine echte Vivian gab.
Obwohl seit der Fernsehübertragung Angst und Sorge an ihr nagten, versuchte Vivian ein normales Leben zu führen: Morgens spazierte sie nach Hampstead hinauf, las die Zeitung, setzte sich tagsüber in ihr Arbeitszimmer, egal ob sie etwas schrieb, das sich aufzuheben lohnte, sprach mit ihrem Agenten oder Verleger, beantwortete die Korrespondenz. Und die ganze Zeit wartete sie auf das Klopfen an der Tür, ohne zu wissen, was sie sagen würde, wie sie sie überzeugen sollte, dass sie nichts wusste; manchmal dachte sie auch, dass sie ihnen vielleicht einfach sagen sollte, was sie wusste, und den Rest dem Schicksal überlassen. Würde das nach so langer Zeit wirklich einen Unterschied machen?
Ja, überlegte sie, würde es.
Als es dann so weit war, kam der Schock in einer Form, die sie nicht im Geringsten erwartet hatte.
Am Dienstagabend klingelte das Telefon, als sie schon fast eingeschlafen war. Sie hob den Hörer ab und hörte nichts als Schweigen, soweit man am Telefon Schweigen hören kann.
»Wer ist da?«, fragte sie und umklammerte den Hörer fester. »Sprechen Sie bitte lauter!«
Schweigen.
Sie wollte gerade auflegen, als sie etwas hörte, das sie für ein zischendes Luftholen hielt. Dann flüsterte eine Stimme, die sie nicht kannte: »Gwen? Gwen Shackleton?«
»Ich heiße Vivian Elmsley. Sie müssen sich irren.«
»Ich irre mich nicht. Ich weiß, wer Sie sind. Wissen Sie, wer ich bin?«
»Ich habe keine Ahnung, wovon Sie reden.«
»Oh doch. Sehr bald.«
Dann legte der Anrufer auf.
* 10
***
Weihnachten 1943. Es war eine düstere, kalte, mondlose Nacht, als die 448. Bombergruppe den ersten Tanz in Rowan Woods veranstaltete. Gloria, Cynthia, Alice und ich gingen zusammen über den schmalen Weg durch den Wald, wir konnten unseren Atem in der Luft sehen. Wir hatten Pumps an den Füßen und trugen unsere Tanzschuhe in der Hand, weil sie viel zu kostbar und zart zum Laufen waren. Glücklicherweise war der Boden nicht zu sumpfig, denn keine von uns hätte dabei ertappt werden wollen, mit Gummistiefeln zum Tanzen zu gehen, selbst wenn wir bei einem Sturm durch Rowan Woods hätten laufen müssen.
»Was glaubst du, wie viele da sind?«, fragte Cynthia.
»Keine Ahnung«, antwortete Gloria. »Aber es ist ein großer Flugplatz. Hunderte wahrscheinlich. Vielleicht sogar Tausende.«
Alice tänzelte vor sich hin. »Ach, denkt euch bloß, die ganzen Amis, die das Geld nur so zum Fenster rauswerfen. Sie bekommen viel mehr als unsere Jungs, wisst ihr? Hat mir Ellen Bairstow erzählt. Als sie in einer Fabrik bei Liverpool arbeitete, ging sie mit einem GI, und sie hatte noch nie so viel Geld gesehen.«
»Red dir bloß nicht ein, dass sie im Gegenzug nichts dafür haben wollen, Alice Poole«, sagte Gloria. »Und vergiss bloß nicht deinen armen Eric, der für sein Land kämpft.«
Danach waren wir eine Weile still. Ich weiß nicht, was die anderen dachten, aber ich hatte nur Matthew im Kopf. Ein Fuchs oder Dachs huschte plötzlich über den Pfad und jagte uns einen Schreck ein, aber wenigstens war es danach vorbei mit dem Schweigen. Den Rest des Weges waren wir aufgeregt und kicherten wie dumme Schulmädchen.
Die meisten Dorfbewohner hatten die Neuankömmlinge schon gesehen, auch ich hatte einige von ihnen im Laden bedient, wo sie sich über unser mageres Angebot gewundert und über die ungewöhnlichen Markennamen gelacht
Weitere Kostenlose Bücher