Inspector Alan Banks 10 In einem heißen Sommer
Annie hinüber wie ein Professor, der seine Vorlesung beginnt. Sie ignorierte ihn. Er fuhr unbeirrt fort. Vielleicht war dieses Beäugen nur eine Gewohnheit von ihm, überlegte Banks, vielleicht merkte er gar nicht, was er da tat. »Hier«, fuhr Dr. Williams fort, »am Ende der langen Knochen in Armen und Beinen haben sich die Epiphysen vollständig mit den Schäften verbunden, was normalerweise nicht vor dem zwanzigsten oder einundzwanzigsten Lebensjahr geschieht. Aber sehen Sie mal hier!« Er wies auf das Schlüsselbein. »Die Epiphyse am Brustbeinende des Schlüsselbeins, die sich erst mit Ende dreißig schließt, ist noch geöffnet.«
»Nun, mit welchem Alter haben wir es hier zu tun? Ungefähr?«
Williams kratzte sich am Kinn. »Ich würde sagen, zwischen zweiundzwanzig und achtundzwanzig. Wenn Sie noch die Schädelnähte hinzunehmen, können Sie hier sehen, dass die Pfeilnaht schon Anzeichen einer endokranialen Schließung aufweist, die mamillare Naht und die Lamb-da-Naht jedoch noch weit geöffnet sind. Das lässt ebenfalls auf Mitte zwanzig schließen.«
»Wie genau ist das?«
»Das dürfte ziemlich genau stimmen. Ich meine, wir haben es hier auf keinen Fall mit einem vierzigjährigen oder einem vierzehnjährigen Skelett zu tun. Sie können auch in Betracht ziehen, dass sie in einem ziemlich guten Allgemeinzustand war. Es finden sich keine Hinweise auf alte, verheilte Brüche oder auf Anomalien oder Deformationen des Skeletts.«
Banks betrachtete die Gebeine und versuchte sich die junge Frau vorzustellen, zu der sie einmal gehört hatten, das lebendige Fleisch ringsherum. Es gelang ihm nicht. »Haben Sie eine Vorstellung, wie lange sie da unten gelegen hat?«
»Ach, du meine Güte. Ich hab schon auf diese Frage gewartet.« Williams verschränkte die Arme und legte den Zeigefinger auf die Lippen. »Das ist sehr schwer. Es ist wirklich äußerst schwer, auf so eine Frage eine genaue Antwort zu geben. Für das ungeübte Auge ist ein Skelett, das seit zehn Jahren unter der Erde liegt, nicht von einem zu unterscheiden, das sich, sagen wir mal, seit tausend Jahren unter der Erde befindet.«
»Aber Sie glauben nicht, dass dies hier tausend Jahre lang vergraben war?«
»O nein. Ich sagte ja, für das ungeübte Auge. Nein, es gibt gewisse Anhaltspunkte dafür, dass wir es hier mit jungen Gebeinen zu tun haben und nicht mit archäologischen.«
»Und die wären?«
»Was fällt Ihnen am stärksten an den Knochen auf?«
»Die Farbe«, antwortete Banks.
»Stimmt. Und was sagt Ihnen das?«
Banks fragte sich, wie nützlich die sokratische Methode zu einem solchen Zeitpunkt war, aber seine Erfahrung sagte ihm, dass es normalerweise nicht schadete, auf Wissenschaftler einzugehen. »Dass sie verfärbt sind oder verfallen.«
»Gut. Gut. Es ist tatsächlich so, dass die Verfärbung ein Hinweis darauf ist, dass sie die Farbe der umgebenden Erde angenommen haben. Und dann das hier. Haben Sie das bemerkt?« Er wies auf mehrere Stellen an den Knochen, wo die Oberfläche wie alte Farbe abzublättern schien.
»Ich dachte, das wären nur Verkrustungen«, meinte Banks.
»Nein. Tatsächlich blättert die Oberfläche des Knochens ab, zerkrümelt. Wenn man das nun alles in Betracht zieht, auch das völlige Fehlen von Binde- und Bändergewebe, dann würde ich schätzen, dass das Skelett ein paar Jahrzehnte lang da unten lag. Ganz bestimmt mehr als zehn Jahre, und wie wir bereits wissen, ist es unwahrscheinlich, dass sie nach 1953 vergraben wurde. Ich würde von da ab zehn Jahre zurückrechnen.«
»1943?«
»Moment mal. Das ist nur eine ganz grobe Schätzung. Die Geschwindigkeit skelettalen Verfalls ist in höchstem Maße unvorhersagbar. Ihr Zahnheilkundler wird Ihnen sicherlich mehr sagen können, der kann den Zeitraum vielleicht stärker eingrenzen.«
»Gibt es für Sie noch eine andere Möglichkeit, das Jahr des Todes genauer zu bestimmen?«
»Ich werde natürlich mein Bestes tun, aber es kann schon etwas dauern. Es gibt verschiedene Tests, die sich mit den Knochen durchführen lassen, Tests, die wir bei relativ jungen Gebeinen anwenden, im Gegensatz zu archäologischen Funden. Es gibt die Radiokarbonmethode, dann kann ich einen ultravioletten Fluoreszenztest machen, eine histologische Bestimmung und die Uhlenhut-Reaktion. Aber auch die sind nicht alle vollkommen genau. Nicht innerhalb des Zeitraums, in dem Sie eine Bestimmung brauchen. Im
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