Inspector Alan Banks 10 In einem heißen Sommer
wandte sich an Banks. »Sir, wir haben gerade eine dringende Mitteilung von einer Sergeant Cabbot aus Harkside erhalten. Sie bittet Sie, so schnell wie möglich zu kommen. Sie meinte, ein Junge namens Adam Kelly hätte Ihnen etwas zu sagen.«
***
Das Telegramm in seinem unverkennbaren orangefarbenen Umschlag wurde aus irgendeinem Grund im Laden abgegeben. Ich erinnere mich an den Tag: Es war Palmsonntag, der 18. April 1943, Mutter und ich waren gerade von der Kirche zurückgekehrt. Gloria arbeitete an dem Tag, so dass ich Mutter mit ihren Tränen schweren Herzens allein lassen und zur Top Hill Farm hinauflaufen musste. Obwohl es ein kühler Nachmittag war, lief mir der Schweiß aus allen Poren, als ich dort ankam.
Ich fand Gloria im Hühnerstall, wo sie Eier zusammensuchte. Sie hielt eins in der Hand und streckte sie aus, um es mir zu zeigen. »Das ist noch ganz warm«, sagte sie, »frisch gelegt. Aber was machst du hier, Gwen? Du bist ja ganz außer Atem. Und deine Augen. Hast du geweint?«
Keuchend reichte ich ihr das Telegramm. Sie las es, ihr Gesicht wurde grau, und sie sank rückwärts gegen die dünne Holzwand. Ein Nagel im Holz quietschte, die Hühner gackerten. Das Blatt schwebte aus ihrer zarten Hand auf den schmutzigen Boden. Sie weinte nicht sofort, nur ein leises Stöhnen kam aus ihrem Mund. »Oh nein«, sagte sie. »Nein.« Fast so, als hätte sie es erwartet. Dann begann ihr ganzer Körper zu zittern. Ich wollte zu ihr gehen, aber irgendwie spürte ich, dass ich nicht durfte. Ich musste warten, bis sie die erste Erschütterung des Schmerzes durch sich hatte beben lassen.
Sie ballte die Hand zur Faust und das Ei zerbrach. Hellgelber Dotter verschmierte ihre zierlichen Finger, das Eiweiß zog sich in langen Fäden zähflüssig hinunter zur strohbedeckten Erde.
***
Das Haus der Kellys stand in der Mitte einer Häuserreihe an der Landstraße östlich von Harkside. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite war ein Kindergarten, daneben ein gebührenpflichtiger Parkplatz, der die Touristen ermuntern sollte, das Ortszentrum nicht mit ihren Fahrzeugen zu verstopfen. Hinter dem Parkplatz erstreckte sich eine Wiese mit Butterblumen und Klee hinunter bis zur Grenze von West Yorkshire und zum Ufer des Linwood-Stausees.
Mrs. Kelly öffnete die Tür und bat die Beamten herein. Banks spürte die Spannung auf der Stelle. Das Nachbeben einer Standpauke; es war ein Gefühl, das er aus seiner Kindheit kannte, als meistens seine Mutter das Schelten übernommen hatte. Obwohl das nie offen angesprochen wurde, wusste Banks, dass sein Vater der Ansicht war, die alltägliche Erziehung sei Frauensache. Nur wenn Banks frech zu ihr wurde oder sich wehrte, griff sein Vater ein und regelte die Angelegenheit mit seinem Gürtel.
»Er macht den Mund nicht auf«, sagte Mrs. Kelly. Sie war eine schlichte, gequält aussehende Frau Anfang dreißig, wirkte aber älter mit dem schlaffen, müden Haar und dem verhärmten Gesicht. »Als er zum Mittagessen von der Schule nach Hause kam, hab ich ihn zur Rede gestellt, da ist er hoch in sein Zimmer gelaufen. Er wollte nicht zurück zur Schule gehen und will nicht runterkommen.«
»Weswegen haben Sie ihn zur Rede gestellt, Mrs. Kelly?«, fragte Banks.
»Weil er was geklaut hat.«
»Geklaut?«
»Ja. Das hab ich beim Aufräumen in seinem Zimmer gefunden. Von diesem ... diesem Skelett da. Ich hab's an der Stelle liegen gelassen. Wollte es nicht anfassen. Jetzt sagen bestimmt alle, dass ich ihn nicht richtig erzogen hab. Ist nicht einfach, wenn man allein ist.«
»Beruhigen Sie sich, Mrs. Kelly«, sagte Annie und legte der Frau die Hand auf den Arm. »Keiner gibt Ihnen die Schuld an irgendwas. Oder Adam. Wir möchten einfach nur der Lösung auf die Spur kommen, das ist alles.«
Es war warm im Zimmer, im Fernsehen erklärte eine Frau, wie man ein perfektes Souffle zubereitete. Da es schon später Nachmittag war und das Zimmer nach Osten ging, fiel nur sehr wenig Licht herein. Banks fühlte Platzangst in sich aufsteigen.
»Kann ich hochgehen und mit ihm reden?«, fragte er.
»Aus dem bekommen Sie nix raus. Der sagt keinen Ton.«
»Darf ich's versuchen?«
»Wenn Sie wollen. Oben an der Treppe links.«
Banks warf Annie einen Blick zu, die versuchte, Mrs. Kelly in einen Sessel zu bugsieren, dann stieg er die teppichbezogenen Stufen der engen Treppe hinauf. Er klopfte an Adams Tür, doch als er keine Antwort
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