Inspector Alan Banks 10 In einem heißen Sommer
Fotos der dunklen, bedrohlichen Flachsmühle, die wie ein Schädel auf einem Grabhügel lag.
Alice Poole kam mit zwei Tassen Kaffee zurück, ein noch verpacktes Kitkat hielt sie zwischen den Zähnen. Als sie die Hände wieder frei hatte, nahm sie den Schokoriegel aus dem Mund und legte ihn auf einen kleinen Beistelltisch neben ihrem Sessel. »Eine kleine Schwäche von mir«, sagte sie. »Möchten Sie auch einen? Ich hätte Sie fragen sollen.«
»Nein«, erwiderte Annie. »So ist es gut.« Sie nahm die Kaffeetasse. Es war viel Milch und Zucker darin, so wie sie es gern mochte.
»Was halten Sie von den Fotos?«
»Sehr interessant.«
»Sie sind also wegen Gloria gekommen?«
»Haben Sie davon gehört?«
»Oh ja. Ihr Chef war gestern Abend im Fernsehen. Ich sehe nicht mehr sehr gut, aber hören kann ich noch einwandfrei. Ich gucke nicht oft fern, aber die Lokalnachrichten bekomme ich noch mit. Besonders so etwas. Wie furchtbar! Gibt es schon einen Verdächtigen?«
»Eigentlich nicht«, sagte Annie. »Wir versuchen immer noch, so viel wie möglich über Gloria herauszufinden. Es ist sehr schwer, weil alles so lange her ist.«
»Das können Sie wohl sagen. Ich bin schon 75. Können Sie das glauben?«
»Ehrlich gesagt, Mrs. - ähm, Alice -, kann ich das nicht glauben.« Für eine Frau ihres Alters sah sie wirklich bemerkenswert munter aus. Abgesehen von ein paar Altersflecken auf den Händen und Falten im Gesicht wies nur das dürftige, fisselige Haar auf die Spuren der Zeit hin, doch gelangte Annie langsam zu der Überzeugung, dass es sich dabei um die Folgen einer Chemotherapie handeln musste.
»Hier«, sagte Alice, »das ist Gloria.« Sie zeigte auf eine Aufnahme von vier Mädchen, die vor einen Jeep standen, und tippte auf eine zierliche Blondine mit langen Locken, schmaler Taille und provozierendem Lächeln. Es war ohne Zweifel das Mädchen auf dem Gemälde von Stanhope. Darunter stand mit kleinen weißen Buchstaben geschrieben: »Juli 1944«. »Das hier ist Gwen, ihre Schwägerin.« Gwen war die Größte. Sie lächelte nicht und hatte sich vom Betrachter abgewandt, als schäme sie sich ihres Aussehens. »Und das hier ist Cynthia Garmen. Die vier Musketiere, so hießen wir. Oh, und das da bin ich.« Alice war offenbar eine grazile Blondine gewesen. Im Jeep hinter den Mädchen standen vier junge Männer in Uniform.
»Wer ist das?«, fragte Annie.
»Amerikaner. Das ist Charlie und der hieß Brad. Wir trafen uns ziemlich oft. Wie die anderen beiden hießen, weiß ich nicht mehr. Die sind nur zufällig mit drauf.«
»Ich würde gerne eine Kopie davon machen, wenn ich darf. Wir schicken es Ihnen zurück.«
»Kein Problem.« Alice löste das Foto aus den Ecken. »Aber gehen Sie bitte vorsichtig damit um.«
»Versprochen.« Annie schob es in ihre Tasche. »Kannten Sie Gloria gut?«, fragte sie weiter.
»Ziemlich gut. Sie heiratete Matthew Shackleton, wie Sie wahrscheinlich schon wissen, und als er im Krieg war, wurden Gloria und Gwen, Matthews Schwester, unzertrennlich. Aber sehr oft unternahmen wir auch gemeinsam etwas. Nun ja, ich würde nicht sagen, dass wir die besten Freundinnen waren, aber ich kannte sie gut. Und ich mochte sie.«
»Wie war sie so?«
»Gloria?« Alice wickelte das Kitkat aus und biss hinein. Nachdem sie den Bissen heruntergeschluckt hatte, sagte sie: »Hm, ich würde sagen, sie war ein anständiger Mensch. Lustig. Es machte Spaß mit ihr. Lieb. Großzügig. Sie hätte einem ihr letztes Hemd gegeben. Oder eins gemacht.«
»Wie bitte?«
»Zauberhände hatte sie. Gloria war eine so vorzügliche Schneiderin, dass man ihr Lumpen geben konnte, und sie machte ein Ballkleid daraus. Nun ja, vielleicht übertreibe ich ein bisschen, aber Sie verstehen bestimmt, was ich meine. Das war damals eine sehr gefragte Eigenschaft, das können Sie mir glauben. In den Geschäften gab es nicht besonders viel zu kaufen und auf die Kleiderscheine bekam man nicht sehr viel.«
»Sie arbeitete auf der Top Hill Farm, nicht wahr?«
»Ja. Für Kimsey. Den alten Lüstling.«
»Glauben Sie, dass da etwas zwischen ihm und Gloria vorging?«
Alice lachte. »Kimsey und Gloria? Vielleicht in seinen wildesten Träumen. Nellie, seine Frau, hätte ihm den Hals umgedreht, wenn er eine andere Frau auch nur angesehen hätte. Und Gloria ... nun, die war wohl in vielerlei Hinsicht großzügig, aber so großzügig nun auch
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