Inspector Alan Banks 10 In einem heißen Sommer
setzte sich wieder. Die Bedienung sah uns mit gerunzelter Stirn an und wandte sich ab. Ich dachte, wir konnten von Glück reden, nicht hinausgeworfen zu werden.
Wir trödelten mit unserem Tee herum, Gloria beruhigte sich allmählich, rauchte noch eine Zigarette und starrte durch die beschlagenen Fensterscheiben auf die draußen vorbeischwebenden Geister. Im Café kamen und gingen Soldaten mit ihren Mädchen. Ich konnte den Regen auf ihrer Uniform riechen.
»Was meinte er damit, es wäre besser so?«, fragte Gloria.
»Weiß ich nicht«, erwiderte ich. »Ich schätze, er wollte damit sagen, dass die Japaner ihre Gefangenen nicht so gut behandeln wie wir unsere.«
»Was machen sie denn mit ihnen? Foltern? Schlagen? Hungern lassen?«
»Ich weiß es nicht, Gloria«, sagte ich und legte die Hand auf ihre. »Ich weiß es wirklich nicht. Ich kann nur sagen, dass es sich in meinen Ohren anhörte, als wollte er sagen, Matthew wäre besser tot.«
***
* 9
Annie parkte in einer der steil ansteigenden Straßen um St. Mary hinter dem Schloss und suchte Alice Pooles Haus. Der Himmel war strahlend blau, nur ein paar fedrige weiße Wolken waren von der Seeluft herangetragen worden. Schade, dass sie arbeiten musste. Sie hätte sich Schaufel und Eimer mitbringen können. Als Kind hatte sie sich stundenlang allein am Strand beschäftigt. Einige der wenigen Erinnerungen an ihre Mutter spielten am Strand von St. Ives: Sie bauten zusammen Sandschlösser, begruben einander im Sand, so dass nur noch der Kopf herausschaute oder vielleicht der Kopf und ein Fuß, sie liefen in die großen Wellen und wurden umgeworfen. In Annies Erinnerung war ihre Mutter ein lebhafter, heiterer Mensch, schelmisch, draufgängerisch, immer am Lachen. Obwohl ihr Vater nach außen hin unbeschwert, heiter, lustig und liebevoll wirkte, lag eine Düsterkeit in seiner Kunst, von der Annie sich ausgeschlossen fühlte; sie wusste nicht, woher sie kam und wie er sie mit dem Rest seines Lebens in Einklang brachte. Litt er im Stillen vor sich hin und setzte vor anderen eine Maske auf, selbst vor seiner eigenen Tochter? Eigentlich kannte sie ihn gar nicht.
Ohne Probleme fand sie das Cottage, indem sie den Anweisungen folgte, die man ihr am Telefon gegeben hatte. Es befand sich in einem ruhigen, höher gelegenen Stadtteil, fern der Pubs und Einkaufszentren voller Urlauber aus Leeds und Bradford. Vom Garten aus konnte sie weit unten, hinter dem Marine Drive, einen Streifen Nordsee erkennen, die heute stahlgrau-blau war, gesprenkelt mit kleinen Booten. Möwen zogen über einem Fischschwarm kreischend ihre Kreise.
Die Frau, die die Tür öffnete, war groß und hatte dünnes, strähniges Haar wie Zuckerwatte. Sie trug ein langes, weites purpurrotes Kleid mit goldenen Stickereien an Hals, Saum und Ärmeln, dazu goldenen Ohrschmuck aus ineinander verschlungenen Ringen, die ihr fast bis auf die Schulter reichten. Sie erinnerten Annie an den Schmuck der Hippies. Eine schwarze Hornbrille hing an einer Kette um ihren Hals.
»Kommen Sie herein, meine Liebe.« Sie führte sie in ein helles, vollgestopftes Zimmer. Staubkörnchen wirbelten in den Sonnenstrahlen, die durch die Scheiben des Fensters fielen. »Darf ich Ihnen etwas anbieten?«, fragte sie, nachdem sie Annie in einen Sessel bugsiert hatte, der so weich und tief war, dass sie nicht wusste, wie sie sich jemals wieder daraus erheben sollte. »Ich nehme um diese Zeit normalerweise mein zweites Frühstück zu mir. Kaffee und Kitkat. Instantkaffee allerdings.«
Annie lächelte. »Das ist schon gut. Danke, Mrs. Poole.«
»Alice. Sagen Sie doch Alice zu mir. Und warum blättern Sie nicht mal hierin herum, solange ich in der Küche bin. Ihr Anruf hat mich an die alten Zeiten erinnert, da fiel mir auf, dass ich es seit Jahren nicht mehr herausgeholt habe.«
Sie reichte Annie ein dickes, in Leder gebundenes Fotoalbum und steuerte auf die Küche zu. Die meisten der ungeschnittenen Schwarzweißfotos waren Familienaufnahmen. Annie nahm an, dass es sich um Alice und ihre Eltern, Tanten und Geschwister handelte, aber es waren auch mehrere Dorfansichten darunter: auf der Straße plaudernde Frauen mit Einkaufskorb über dem Arm und unter dem Kinn verknoteten Kopftüchern; am Ufer angelnde Kinder. Es gab auch ein paar Bilder der Kirche mit ihrem gedrungenen, viereckigen Turm. Sie war kleiner und hübscher, als Annie sie sich nach Stanhopes Gemälde vorgestellt hatte. Dann
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