Inspector Alan Banks 12 Wenn die Dunkelheit fällt
aussieht, wenn wir streuen, dass sie mit zwölf Jahren ihre eigene Cousine abgemurkst hat.«
»Ich dachte, ich könnte sie damit ein bisschen unter Druck setzen, mal sehen, wie sie reagiert.«
»Sie wissen genauso gut wie ich, dass Blut und Fasern nicht ausreichen, und mehr haben wir nicht an Beweisen. Mutmaßungen über ihre Vergangenheit führen nur dazu, dass die Öffentlichkeit noch mehr Verständnis für sie hat.«
»Es gibt bestimmt genauso viele Leute, die sich über die Verbrechen entrüsten und glauben, dass sie vielleicht doch mehr damit zu tun hat, als sie zugibt.«
»Schon möglich, aber die sind längst nicht so stimmgewaltig wie die Leute, die schon in Millgarth angerufen haben, glauben Sie mir. Lassen Sie sie laufen, Alan.«
»Aber ...«
»Wir haben den Mörder, und er ist tot. Lassen Sie sie frei. Wir können sie nicht noch länger festhalten.«
Banks sah auf die Uhr. »Wir haben noch vier Stunden. Vielleicht ergibt sich noch was.«
»Es ergibt sich nichts mehr in den nächsten vier Stunden, glauben Sie mir! Lassen Sie sie frei!«
»Was ist mit Beschattung?«
»Zu teuer. Geben Sie auf dem zuständigen Revier Bescheid, die sollen sie im Auge behalten, und sagen Sie ihr, sie soll in der Nähe bleiben; vielleicht möchten wir uns ja noch mal mit ihr unterhalten.«
»Wenn sie schuldig ist, haut sie ab.«
»Wenn sie schuldig ist, suchen wir zuerst einen Beweis und dann sie.«
»Lassen Sie's mich noch einmal mit ihr versuchen.« Banks hielt die Luft an, als Hartneil am anderen Ende schwieg.
»Na gut. Reden Sie noch mal mit ihr. Wenn sie nicht gesteht, lassen Sie sie laufen. Aber nehmen Sie sich in Acht! Ich will keine Klagen hören, von wegen Gestapo-Methoden.«
Es klopfte an der Tür. Banks legte die Hand über den Hörer und rief: »Herein!«
Julia Ford betrat sein Büro und grinste ihn breit an.
»Da machen Sie sich mal keine Sorgen«, sagte Banks zu Hartneil. »Ihre Anwältin wird die ganze Zeit anwesend sein.«
»Wie im Irrenhaus da draußen, was?«, sagte Julia Ford. Die kleinen Fältchen um ihre Augen vertieften sich beim Lächeln. Sie trug heute ein anderes Kostüm - ein graues mit einer perlmuttfarbenen Bluse das aber nicht minder geschäftstüchtig aussah. Ihr Haar glänzte, als käme sie direkt vom Duschen, und ihr Make-up ließ sie jünger wirken.
»Ja«, erwiderte Banks. »Sieht aus, als hätte jemand der gesamten britischen Presse einen Tipp gegeben, wo sich Lucy aufhält.«
»Lassen Sie sie gehen?«
»Gleich. Vorher will ich noch einmal mit ihr reden.«
Julia seufzte und öffnete ihm die Tür. »Auch gut. Auf in den Kampf!«
Hull und das östliche Umland war ein Teil von Yorkshire, den Jenny kaum kannte. Auf ihrer Karte war am südlichsten Zipfel, wo der Humber in die Nordsee fließt, ein kleines Dorf namens Kilnsea verzeichnet. Dahinter erstreckte sich ein schmaler Landstreifen namens Spurn Head, eine als nationales Kulturerbe ausgewiesene Küste, die wie der krumme, verschrumpelte Finger einer Hexe ins Meer ragte. Die Gegend sah so öde aus, dass Jenny allein beim Blick auf die Landkarte erschauderte und den unaufhörlichen, kalten Wind und die brennende, salzige Gischt spüren konnte. Mehr gab es dort bestimmt nicht zu sehen.
Hatte die Landzunge den Namen Spurn Head, Landspitze der Verstoßenen, bekommen, weil dort einmal eine Frau ins Meer gestoßen worden war? Spukte nun dort ihr Geist, lief durch den Sand und heulte in der Nacht? Oder war »spurn« eine korrumpierte Form von »sperm«, weil das Land tatsächlich einem ins Meer hinauswackelnden Spermium glich? Wahrscheinlich gab es eine weitaus nüchternere Erklärung, vielleicht bedeutete »spurn« in der Wikingersprache einfach »Halbinsel«. Jenny fragte sich, ob überhaupt mal jemand Spyrn Head besuchte. Vogelbeobachter vielleicht; die waren verrückt genug, auf der Suche nach dem seltenen gesprenkelten gelben Baumspötter in den entferntesten Winkel zu stiefeln. Es sah nicht so aus, als gebe es in der Gegend irgendwelche Urlaubsorte, außer vielleicht Withernsea, wo Banks am Vortag gewesen war. Der große Rummel war weiter nördlich, in Bridlington, Filey, Scarborough, Whitby bis hoch nach Saltburn und Redcar, kurz vor Middlesbrough.
Es war ein schöner Tag, windig, aber sonnig. Nur gelegentlich zog eine hohe weiße Wolke vorbei. Nicht unbedingt warm - eine leichte Windjacke war angesagt -, aber eisig war es
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