Inspector Alan Banks 12 Wenn die Dunkelheit fällt
Patentmedizin. Ein Ständer mit Geburtstagskarten, daneben lange Nägel und Dosen mit Kondensmilch. Es roch gleichzeitig muffig und fruchtig - Himbeerdrops, dachte Jenny -, und das gedämpfte, von der Straße hereinfallende Licht warf schattige Streifen auf den Verkaufstresen. Vor dem kleinen Schalterfenster der Post stand eine Frau in einem fadenscheinigen braunen Mantel. Sie drehte sich um und musterte Jenny abschätzig. Die Postmeisterin selbst spähte an ihrer Kundin vorbei und rückte die Brille zurecht. Sie hatten einen kleinen Plausch gehalten und waren nicht gerade begeistert, unterbrochen zu werden.
»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte die Postmeisterin.
»Ich dachte, Sie könnten mir vielleicht sagen, wo das alte Doppelhaus von den Murrays und Godwins steht«, sagte Jenny.
»Warum wollen Sie das wissen?«
»Das hat was mit dem Auftrag zu tun, an dem ich arbeite.«
»Reporterin von der Zeitung, was?«
»Um ehrlich zu sein, nein. Ich bin forensische Psychologin.«
Das gebot der Frau Einhalt. »Die Spurn Lane meinen Sie. Hier über die Straße und dann den Weg runter zum Meer. Das letzte Doppelhaus. Ist nicht zu übersehen. Da wohnt seit Jahren keiner mehr.«
»Wissen Sie, ob von den Kindern noch welche hier in der Gegend sind?«
»Von denen hab ich seit damals keinen mehr gesehen. Nicht mal von weitem.«
»Und was ist mit der Lehrerin, Maureen Nesbitt?«
»Die wohnt in Easington. Hier gibt's keine Schule.«
»Vielen Dank.«
Als Jenny ging, hörte sie die Kundin flüstern: »Forensische Psychologin? Was ist das denn für 'ne Krankheit?«
»Wahrsager«, murmelte die Postmeisterin. »Perverslinge, alle miteinander. Egal, was hast du eben über den Mann von Mary Wallace gesagt...«
Jenny fragte sich, wie die Leute wohl reagieren würden, wenn die Presse hier in wilden Horden einfiel, denn über kurz oder lang würde das geschehen. Es kommt nicht oft vor, dass ein Ort wie Alderthorpe mehr als einmal im Leben in die Schlagzeilen gerät.
Jenny überquerte die High Street mit dem Gefühl, beobachtet zu werden, und fand den ungepflasterten Weg, der nach Osten zur Nordsee führte. Obwohl ein eisiger Wind wehte, war der wolkenlose Himmel von einem solch durchdringenden Blau, dass sie ihre Sonnenbrille aufsetzte. Mit einem wütenden Stich erinnerte sie sich an den Tag, als sie die Brille mit Randy, dem geilen Bock, auf dem Pier von Santa Monica gekauft hatte.
Auf jeder Seite der Spurn Lane befanden sich zur High Street hin fünf, sechs Bungalows, daran schlossen sich ungefähr fünfzig Meter unbebautes Land an. Noch mal fünfzig Meter weiter sah Jenny ein verkommenes Doppelhaus aus Backstein. Es lag weit abgelegen vom Dorf, das schon selbst am Ende der Welt war. Jenny konnte sich vorstellen, wie Schweigen, Einsamkeit und Trauer die kleine Gemeinde erschüttert haben mussten, wie Fragen und Anschuldigungen in der Luft hingen, seit die Journalisten und Fernsehkameras vor zehn Jahren abgezogen waren. Schon die Anwohner von The Hill, einer Straße im Vorort einer modernen Großstadt, würden Schwierigkeiten haben zu begreifen, was dort jahrelang vor sich gegangen war, und viele Nachbarn würden psychologisch betreut werden müssen. Jenny hatte eine gewisse Ahnung, was die Leute aus Alderthorpe von psychologischer Betreuung halten würden.
Als sie sich dem Doppelhaus näherte, nahm sie den salzigen Geruch des Meeres immer stärker wahr. Sie rief sich in Erinnerung, dass es da draußen war, nur wenige Meter entfernt hinter den flachen Dünen und dem Strandhafer. An dieser Küste waren Dörfer im Meer verschwunden; der Küstenverlauf änderte sich unaufhörlich, vielleicht würde Alderthorpe in zehn oder zwanzig Jahren ebenfalls vom Wasser verschlungen worden sein. Eine gruselige Vorstellung.
Das Haus war heruntergekommen. Das Dach war eingefallen, die kaputten Fenster und Türen waren vernagelt. An der Mauer stand: »SCHMORT IN DER HÖLLE«, »ZURÜCK ZUR TODESSTRAFE« und schlicht und ergreifend »KATHLEEN, WIR VERGESSEN DICH NICHT«. Jenny war sonderbar berührt, als sie da stand und den Voyeur spielte.
Die Vorgärten waren zugewuchert. Trotzdem kämpfte sich Jenny durch das dichte Gestrüpp ans Haus heran. Es gab nicht viel zu sehen, die Türen waren so gründlich verbarrikadiert, dass sie nie im Leben hineingekommen wäre. In den Häusern waren Lucy Payne und sechs andere Kinder weiß Gott wie viele Jahre terrorisiert,
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