Inspector Alan Banks 12 Wenn die Dunkelheit fällt
konträrer Theorie heran.
Mittelalter.
Nüchtern betrachtet, war Jenny durchaus klar, dass die meisten Polizisten, mit denen sie arbeitete, in ihr nicht viel mehr als eine Kaffeesatzleserin sahen. Sie wurde nur deshalb zu Rate gezogen, weil es einfacher war, als eine Begründung dagegen zu finden. Aber sie kämpfte. Auch wenn sie bereitwillig zugab, dass Fallanalyse immer noch eher eine Kunst als eine Wissenschaft war und ein Täterprofil selten oder eigentlich nie auf einen bestimmten Menschen wies, war sie doch überzeugt, dass ihre Arbeit die Suche eingrenzen und die Fahndung fokussieren konnte.
Die Fotos auf dem Bildschirm zu betrachten, reichte Jenny nicht. Sie breitete sie auf dem Schreibtisch aus, auch wenn sie alle im Kopf hatte: Kelly Matthews, Samantha Foster, Le-anne Wray, Melissa Horrocks und Kimberley Myers, alles hübsche blonde Mädchen zwischen sechzehn und achtzehn.
Von Anfang an waren für Jennys Geschmack zu viele Punkte als gegeben hingenommen worden, unter anderem die wesentliche Annahme, alle fünf Mädchen seien von derselben Person oder denselben Personen entführt worden. Schon mit den wenigen Informationen, die ihr vorlägen, könne sie, hatte sie Banks und seiner Mannschaft erklärt, fast ebenso schlüssige Beweise dafür konstruieren, dass die fünf nichts miteinander zu tun hatten.
Unablässig würden junge Mädchen verschwinden, hatte Jenny argumentiert; sie stritten sich mit ihren Eltern und liefen von zu Hause fort. Aber Banks hatte ihr berichtet, sie wären durch gründliche, erschöpfende Befragungen von Freunden, Angehörigen, Lehrern, Nachbarn und Bekannten zu dem Schluss gekommen, dass alle Mädchen - außer vielleicht Leanne Wray - einen stabilen familiären Hintergrund hatten. Abgesehen von den üblichen Streitereien über Freunde, Klamotten, laute Musik und so weiter, hatten sie nichts Ungewöhnliches oder Auffälliges erlebt, bevor sie verschwanden. Diese Mädchen, betonte Banks, seien nicht die üblichen jugendlichen Ausreißer. Außerdem waren da noch die Taschen, die jeweils unweit des Ortes gefunden wurden, wo die Mädchen zuletzt gesehen worden waren. Da ihnen die verpfuschte Yorkshire-Ripper-Ermittlung immer noch wie ein Klotz am Bein hing, wollte West Yorkshire nichts riskieren.
Das vierte Mädchen verschwand, dann das fünfte, aber die bewährten Methoden führten zu keiner einzigen Spur: weder Jugendhilfegruppen noch die landesweite Hotline für Vermisste, Aufrufe im Fernsehen, postergroße Vermisstenanzeigen, Presseappelle oder die Arbeit der örtlichen Polizei.
Irgendwann hatte Jenny Banks' Argumente akzeptiert und war ebenfalls davon ausgegangen, dass die Vermissten zusammengehörten. Dennoch hatte sie sich alle Unterschiede zwischen den einzelnen Fällen notiert. Es dauerte nicht lange, bis sie feststellte, dass es weitaus mehr Parallelen als Unterschiede gab.
Viktimologie. Was hatten die Opfer gemeinsam? Alle Mädchen waren jung, hatten langes blondes Haar, lange Beine und eine sehnige, sportliche Figur. Das war wohl der Mädchentyp, den der Täter bevorzugte. Jeder Täter hat einen eigenen Geschmack.
Bei Opfer Nummer vier hatte Jenny das Steigerungsmuster erkannt: fast zwei Monate zwischen Opfer Nummer eins und zwei, fünf Wochen zwischen zwei und drei, aber nur noch zweieinhalb Wochen zwischen Nummer drei und vier. Der Druck in ihm wurde stärker, hatte sie damals gedacht, und das konnte bedeuten, dass er fahrlässiger wurde. Jenny hätte darauf gewettet, dass die Persönlichkeit des Täters inzwischen langsam zerfiel.
Der Täter hatte seine Tatorte gut gewählt. Open-air-Partys, Pubs, Discos, Clubs, Kinos und Popkonzerte waren Orte, an denen man mit Sicherheit junge Leute fand, die irgendwie nach Hause mussten. Jenny wusste, dass ihm die Soko den Namen »Chamäleon« gegeben hatte, und konnte bestätigen, dass er bei der Wahl seiner Opfer ein hohes Maß an Geschicklichkeit an den Tag legte. Alle waren nachts in städtischer Umgebung entführt worden - auf einsamen, schlecht beleuchteten oder leeren Straßenabschnitten. Außerdem hatte er sich von den Überwachungskameras ferngehalten, die inzwischen in vielen Innenstädten und auf Marktplätzen installiert waren.
Eine Zeugin hatte ausgesagt, sie habe gesehen, wie Samantha, das Opfer aus Bradford, mit jemandem in einem dunklen Auto gesprochen habe. Das war der einzige Hinweis auf die mögliche Entführungsmethode.
Während die Silvesterparty, das
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