Inspector Alan Banks 12 Wenn die Dunkelheit fällt
hatte schon einmal vorsichtig angedeutet, die Entführungsmethode weise darauf hin, dass der Mörder einen Helfer gehabt haben könne, der das Mädchen ins Auto lockte oder ablenkte, während Payne sich von hinten anschlich. Eine Frau wäre perfekt für diese Aufgabe gewesen, es hätte die Entführung erleichtert. Junge Mädchen, die vor Männern auf der Hut waren, beugten sich viel eher zu einem Autofenster hinunter und gaben Auskunft, wenn eine Frau um Hilfe bat.
Konnten Frauen so böse sein?
Ganz bestimmt. Und wenn sie gefasst wurden, war die öffentliche Entrüstung viel größer als bei einem Mann. Man musste sich nur die Reaktion der Öffentlichkeit auf Myra Hindley, Rosemary West und Karla Homolka in Erinnerung rufen.
War Lucy Payne eine Mörderin?
Banks war hundemüde, als er kurz vor Mitternacht in den schmalen Weg zu seinem Cottage in Gratly einbog. Er hätte in einem Hotelzimmer in Leeds übernachten sollen, wie er es schon öfter getan hatte, oder Ken Blackstones Angebot mit dem Sofa annehmen, aber er hatte unbedingt nach Hause gewollt, auch wenn Annie sich geweigert hatte, ihn zu besuchen. Das Fahren machte ihm nicht viel aus. Es entspannte ihn.
Auf dem Anrufbeantworter waren zwei Nachrichten. Die erste war von Tracy. Sie sagte, sie hätte die Nachrichten gehört und hoffe, es ginge ihm gut. Die zweite war von Leanne Wrays Vater, Christopher Wray, der die Pressekonferenz und die Abendnachrichten gesehen hatte und wissen wollte, ob die Polizei die Leiche seiner Tochter im Haus der Paynes gefunden hatte.
Banks rief keinen von beiden zurück. Erstens war es zu spät, zweitens wollte er heute mit niemandem mehr sprechen. Das konnte er alles am nächsten Morgen erledigen. Endlich zu Hause, war er sogar erleichtert, dass Annie nicht gekommen war. Die Vorstellung, in dieser Nacht Gesellschaft zu haben, selbst wenn es Annies war, gefiel ihm nicht, und nach allem, was er heute gesehen und erlebt hatte, war der Gedanke an Sex ungefähr so prickelnd wie ein Besuch beim Zahnarzt.
Stattdessen goss er sich ein großzügiges Glas Laphroaig ein und suchte nach einer passenden CD. Er wollte Musik hören, wusste aber nicht, welche. Normalerweise hatte er kein Problem, in seiner großen Sammlung etwas Geeignetes zu finden, aber heute missfiel ihm beinahe jede CD, die er in die Hand nahm. Er wusste, dass er keinen Jazz, keinen Rock und nichts Wildes oder Einfaches hören wollte. Wagner und Mahler kamen nicht in Frage, genauso wenig wie die Romantiker, Beethoven, Schubert, Rachmaninow und so weiter. Das gesamte zwanzigste Jahrhundert schied ebenfalls aus. Schließlich wählte er eine Interpretation von Bachs Cellosuiten von Rostropowitsch.
Die niedrige Steinmauer zwischen der unbefestigten Straße und dem Wildbach vor Banks' Cottage besaß eine Ausbuchtung und bildete so einen kleinen Balkon über Gratly Falls. Eigentlich war es kein Wasserfall, sondern nur eine Reihe von höchstens eins zwanzig oder eins fünfzig hohen Staustufen im Bach, der quer durch das Dorf und unter der kleinen Steinbrücke hindurchfloss, dem Haupttreffpunkt des Dorfes. Seit Banks im vergangenen Sommer in das Cottage gezogen war, hatte er sich angewöhnt, bei gutem Wetter zum Abschluss des Tages dort draußen zu stehen oder sich sogar auf die Mauer zu setzen und die Beine über dem Bach baumeln zu lassen. So genoss er vor dem Zubettgehen einen Schlummertrunk und eine Zigarette.
Die Nacht war still und roch nach Heu und warmem Gras. Das Tal zu seinen Füßen lag schweigend da. Am gegenüberliegenden Hang schienen ein, zwei Lichter in Bauernhäusern, aber abgesehen von den Geräuschen der Schafe auf den Feldern jenseits des Baches und der Nachttiere im Wald war nichts zu hören. In der Dunkelheit konnte er so gerade die Umrisse der fernen Hügel ausmachen, die bucklig und schartig in den Nachthimmel ragten. Er glaubte, hoch oben im Moor den unheimlichen Ruf des Brachvogels zu hören. Der Neumond spendete nicht viel Licht, aber es waren mehr Sterne am Himmel, als er seit langem gesehen hatte. Eine Sternschnuppe fiel durch die Schwärze und zog einen dünnen milchigen Schweif hinter sich her.
Banks wünschte sich nichts.
Er war niedergeschlagen. Das Hochgefühl, mit dem er bei der Enttarnung des Mörders gerechnet hatte, wollte sich einfach nicht einstellen. Er hatte nicht das Gefühl, dass etwas zu Ende gegangen, etwas Böses gesühnt sei. Irgendwie hatte er das komische Gefühl, dass das Böse
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